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Wer kann solche Sechsfüßer lesen

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Der talentlose Goethe — Meinungen der Goethe-Gegner. Auswahl und Anordnungen von W. M. Treidlinger. Pan-Verlag, Zürich. 125 Seiten

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Der talentlose Goethe — Meinungen der Goethe-Gegner. Auswahl und Anordnungen von W. M. Treidlinger. Pan-Verlag, Zürich. 125 Seiten

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Im Goethe-Gedenkjahr melden sich auch die „Geister, die verneinen" und wenn sie es auch sehr ernsthaft meinten, so bleibt doch der Gesamteindruck nach dem Lesen dieses unterhaltsamen Buches, daß sie wider Willen den „Schalk“ gespielt haben. Sie sind alle versammelt: die offenen Gegner und die mißgünstigen Freunde. „Dieser Goethe ist ein gemeiner Kerl“, schreibt da Graf Görtz (1775), Beaumarchais wirft „diesem Deutschen", der an seinen Clavigo-Stoff gerührt hatte, „Hohlköpfigkeit“ vor. In einem 21 (!) Zeilen langen Satzmonstrum voll durcheinandergewürfelten Ungereimtheiten und Banalitäten urteilt Christian Ziegra den „Wer- ther“ ab. Friedrich Jacobi nennt Goethe „einen ekelhaften und verächtlichen Charakter, „dem er auf ewig den Rücken kehre“. Für Iffland ist die Iphigenie eine „seynsollende griechische Simplizität, die oft in Trivialität ausartet". Niebuhr weiß zum ersten Band der „Italienischen Reise“ zu sagen: „Es ist unbegreiflich, wie Goethe Dergleichen hat drucken lassen." Frau von Stein wieder spricht zum „Wilhelm Meister" den Verdacht aus: „Ich wollte schwören (das „Glaubensbekenntnis einer schönen Seele" ist gemeint), es ist nicht von Goethe, sondern er hat nur Stellen hineingesetzt, und es hat ihm vermutlich einmal Jemand gegeben.“ Die Dichterkollegen sind nicht freundlicher: „Goethes Reineke Fuchs habe ich angefangen", urteilt Voß, „aber ich kann nicht durchkommen“. Und als ihn Goethe großzügig gebeten hatte, „ihm die schlechten Hexameter anzumerken", lohnt dies Voß mit der Bemerkung: „Ich muß sie alle nennen, wenn ich aufrichtig bin.“ Gleim gießt öl ins Feuer, wenn er Voß schreibt: „Nun ich seinen .Hermann’ nicht gelesen — wer kann solche Sechsfüßer lesen ! sage ich: dieser .Hermann und Dorothea’ ist eine Gocthische Sünde wider meinen heiligen Voß, ,eines Voß Luise’

will der Bube lächerlich machen t“ — „Bei Egmont hat der Verfasser" keinen Plan gehabt, wie man sieht, als er zu arbeiten anfing’’, sagt die „Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste“. Klopstock nennt Goethe „einen gewaltigen Nehmer“, denn das Gute beim Götz liege nur dort, wo sich Goethe an dessen eigene Lebensbeschreibung hielt. Karoline Herder schreibt an Knebel, ihr Mann sei von Goethes Konzert krank fortgegangen — mehr aber (krank) von der „Bajadere“, die dort gesungen wurde. „Ich habe, seit ich Goethe kenne, immer eine Art von Mißtrauen gegen ihn gehabt“, bekennt Dorothea Schlegel, während Friedrich Schlegel an Sulpiz Boisserfe über „den alten Götzen“ schreibt, „dieser, habe sich mit seinem Urteil über das Münster ein testimoniutn pauperitatis ausgestellt’’. Die Künstler, findet Knebel, seien „subaltern“, und gerade Goethe beweise das. Auf den sonst scharfsichtigen Menschenkenner Friedrich von Gentz hat Goethe „gai keinen Eindruck gemacht“ und: „Er ist nun einmal ein seltsamer Mensch, aber wahrlich kein interessanter.“ Und der Spötter Heine, Dichter des „Romanzero", wirft dem „Faust" vor: es fehle darin „das treue Festhalten an der wirklichen Sage, die Ehrfurcht vor ihrem wahrhaftigen Geiste, die Pietät für ihre innere Seele, eine Pietät, die der Skeptiker (Goethe) des 18. Jahrhunderts weder empfinden noch begreifen konnte!" Der hellsichtigste in diesem Chor der Kritiker ist trotz allem Einwendbaren gegen seine Urteile zweifellos Ludwig Börne.

Di „Freuden des jungen Werther“ und die Freuden Werthers des Mannes" beschließen che Sammlung, die den Leser anregt und nachdenklich macht und der in der Literatur des Goethe- Gedenkjahres mit ein Platz gebührt.

System der großen italienischen Pädagogin, die so zur Erzieherin der Völker geworden ist. Dabei spielt es wohl eine bedeutende Rolle, daß sie durch ihre persönlich-menschlichen Qualitäten das Vertrauen der Inder in hohem Maße gewonnen hat.

Doch auch im europäischen Kulturbereich hat die Montessori-Pädagogik unmittelbar nach dem zweiten Weltkriege neue Einschätzung gefunden. In dem Streben nach geistigem und sittlichem Wiederaufbau erkennen die Erzieher immer mehr das auffällige Zusammentreffen zwischen dem, was Maria Montessori will, und den Ergebnissen der modernen Kinderpsychologie, Arbeitspädagogik und Gemeinschaftserziehung. Das ist durchaus verständlich, denn die Ausgangsstellungen wie die Zielsetzungen sind die gleichen. Darüber hinaus zeigen besonders die modernen Formgebungen der Schule, wie sie uns im Dalton- und Jena-Plan und ähnlichen Versuchen begegnen, eine Verwandtschaft mit dem System Montessori, die zum Teile ein direktes Her- kuniftsverhältnis ist. Die verfeinerte Lenkung kindlicher Aktivität zum selbsttätigen Bildungserwerb und zur Selbstregierung, die Überwindung der starren Altersklassen zugunsten von Interessen- und Begabungsgruppen, der Einbau technischer Hilfsmittel als didaktische Behelfe, vor allem aber die schrittweise Lösung von Menschheitsaufgaben durch die Friedens- und Humanitätserziehung, das sind die großen Leitgedanken, unter denen die Schule der Zukunft stehen wird. Kaum eines der Systeme, die dabei anwendbar sind, hat aber im zeitlichen Vorrang und in der räumlichen Verbreitung eine solche Bedeutung wie die Montessori-Pädagogik.

Diese Tatbestände bildeten den Hintergrund für den VIII. Internationalen Montessori-Kongreß, der in der letzten Augustwoche in San Remo unter Beteiligung von 20 Nationen stattfand und auf dem auch Österreich offiziell vertreten war. Itn Mittelpunkte dieser völkerpädagogischen Veranstaltung, die ihr besonderes Kolorit durch die starken ostasia- ischen Delegationen erhielt, stand die Persönlichkeit Maria Montessoris selbst, die in einer ergreifenden Botschaft an die Erzieher der Welt all ihren Glauben an die ungehobenen Möglichkeiten zum Ausdruck brachte, die für die Menschheit im Kinde schlummern. Sie hatte in diesem Sinne auch das Rahmenthema des Kongresses formuliert: Die Menschheitsbildung im Wiederaufbau der Welt.

Die Vorträge des Kongresses und die daran geknüpften Aussprachen zeigten die Umrisse einer neuen Schule, die schier überall Im Werden ist und deren tiefere Unterschiede gegenüber den herkömmlichen Formen wir oben skizziert haben. Der Vertreter Österreichs konnte mit Befriedigung erkennen, daß unser österreichisches Versuchsschulwesen sich durchaus sinnvoll in diesen Rah- men einfügt und auf dem Wege ist, für unsere Verhältnisse zum Bahnbrecher der Schulerneuerung von morgen zu werden.

Bewußt oder unbewußt aber wird die Gestalt, das pädagogische Profil der modernen Schule überall von den Einflüssen der Montessori-Pädagogik mitbestimmt — das bewies dieser Kongreß besonders. Eine sehr anschauliche Ausstellung zeigte die Verbreitung und die Arbeitsweise der Montessori- Schulen, die vielleicht am stärksten in Holland verbreitet sind. Aber die Kongreßteilnehmer konnten die Methode auch praktisch in einer solchen Schule studieren, die ad hoc in San Remo errichtet worden war. Manche Aussprache berührte auch die Grenzen dieses pädagogischen Systems. Sie scheinen dort zu liegen, wo eine bloß naturalistische Betrachtung das Kind zu überschätzen beginnt, in ihm nur das Gute als existent an- sehen will. Solchen Einseitigkeiten aber und besonders jenen, die in der Reklamierung der Montessori-Pädagogik für eine bestimmte Ideologie (oder Psychologie) ihre Aufgabe sehen wollten, trat am sichersten Maria Montessori selbst in ihren großen Vorträgen entgegen. Diese waren wohl auch die Höhepunkte, denn das Erlebnis einer ganz großen, zutiefst gläubigen Erzieherpersönlichkeit ist natürlich die stärkste pädagogische Argumentation. Ein gewaltiger Eindruck geht von dieser einmaligen Frau aus, die ihre ganze Lebenserfahrung, Weisheit und ihren unzerstörbaren Glauben an die menschheitserneuernde Kraft der guten Erziehung in ihre unerhört lebendige und packende Darstellung zu legen wußte.

Es war zu gut verständlich, daß der Kongreß mehrfach zu einer Huldigung für die greise Erzieherin der Völker wurde und daß er schließlich in den spontanen Vorschlag ausklang, Maria Montessori für die Verleihung des Friede ns- Nobel- Preises zu präsentieren.

Über alle besonderen Fragen ihres Systems und ihrer Methoden hinaus ist diese große Frau eine helle Stimme des Glaubens an das Gute, an die Freiheit und Menschenwürde, an den Völkerfrieden.

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