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Das Kind mit dem Bade

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Wir sind wieder einmal auf dem besten Weg, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Die ÖVP will dem Unterrichtsminister die Zustimmung zur Verlängerung der Schulversuche verweigern, weil ihrer Meinung nach das Ministerium durch die Beistellung von Lehrmitteln unterschwellig marxistische Infiltration betreibe. Steht hier das Schulorganisationsgesetz in Frage, wird gleichzeitig gegen das Schulunterrichtsgesetz Sturm gelaufen, weil es den Schülern die Möglichkeit bietet, selbst die Entschuldigungen auszuschreiben und die „lieben Kleinen“ nun diese Möglichkeit mitunter zu exzessiv in Anspruch nehmen. Das gemeinsam akzeptierte Unterrichtsprinzip der Politischen Bildung wird kritisiert, weil „engagierte“ Lehrer es vielleicht mitunter zu sehr in Richtung ihres eigenen Engage-

ments durchexerzieren. Also - so scheint unter dem Strich herauszukommen - ist das System schuld, ist die Schulreform schuld. Ist Sinowatz schuld. Aber so einfach ist die Sache nicht.

Als 1962 die Schulgesetze die bildungspolitische Kluft von 40 Jahren überbrückten, durfte niemand erwarten, daß ein Jahrhundertwerk diesen Umfangs und dieser Bedeutung ohne Schwierigkeiten, ohne Pannen und Rückschläge, ohne Enttäuschungen verwirklicht werden könnte. Trotzdem fiel dem ersten Unbehagen, der ersten Ungeduld schon 1969 das neunte Mittelschuljahr zum Opfer. Heute würde vielleicht die ganze Hochschullandschaft anders aussehen, hätte man die Beschlüsse von 1962 vollinhaltlich und zukunftsgerecht durchgeführt.

Heute ist die Konsensbereitschaft von einst auf der einen Seite allzusehr dem Bestreben gewichen, auf kaltem Wege jene Schulformen durchzudrücken, die auf dem Verhandlungsweg nicht erreicht werden können, auf der anderen Seite dem Mißtrauen, das diese Versuche erzeugen müssen. Aber nicht jeder Verdacht ist begründet, so mancher entspringt der eigenen Unsicherheit, dem Unvermögen, die gemeinsam geschaffene Schullandschaft auch mit eigenen Kräften mitzugestalten.

Wie steht es denn nun mit der kritisierten „marxistischen Unterwanderung“? Zunächst: Nicht alles ist bereits ein Symptom für diese „Unterwanderung“, was neue, in der Schule bisher ungewohnte Inhalte anbietet. Bei aller Kritik, die vor allem von der Methode her an der Schulbuchaktion geübt werden muß - ihr positiver Effekt war zweifellos die gründliche Durchforstung des gesamten

Unterrichtsmaterials. Wenn es darunter auch Bücher gibt, die den Vorstellungen marxistischer Pädagogen entsprechen - wen wundert's in einem Land, dessen Wähler - bisher - zu mehr als 50 Prozent eine marxistisch orientierte Partei wählten?

Gibt es nicht auch Lehrmittel anderer Richtung? Werden Direktoren, werden Lehrer gezwungen, einseitig auszusuchen? Die freie Auswahl aus dem gesamten Angebot ist dem Lehrer zugesichert; zu überwachen, daß diese Auswahl auch den Vorstellungen der Eltern in ihrer jeweiligen Mehrheit entspricht, ist Aufgabe der gesetzlichen Elternvertretungen. Solange ihr Protest sich nicht aktiver äußert, als im Raunen hinter vorgehaltener Hand, werden sie sich selbst zuzuschreiben haben, wenn der Protest uneffektiv bleibt.

Dasselbe gilt für die politische

Bildung. Wo, bitte, soll die so beklagte politische Abstinenz der jungen Menschen bekämpft werden, wenn diese nicht in der Schule mit ihrer, auch politischen Umwelt konfrontiert werden? Wenn jedoch hierbei im konkreten Fall - der gar nicht abgestritten werden soll - einseitige Akzente gesetzt werden, ist es wieder Aufgabe der Elternvertreter, ihren Vorstellungen Ausdruck zu geben.

Denn die Eltern wurden ja, ebenso wie ihre Sprößlinge, als Mitwirkende am Schulgeschehen ausdrücklich anerkannt. Mag sein, daß sich dies noch nicht recht herumgesprochen, noch nicht voll durchgesetzt hat. Auch das ist ein Lernprozeß. Auch die Frage der selbst zu unterschreibenden Entschuldigungen gehört in diesen Komplex.

Mag sein, daß es etwas zu weit ging, schon den Fünfzehnjährigen dieses Recht einzuräumen. Aber einem Achtzehnjährigen vorzuschreiben, von der Mutti bestätigen lassen, daß er während der Unterrichtszeit zum Zahnarzt gehen soll, ist doch heute kaum mehr einzusehen. Vorausgesetzt, daß auch die Eltern bereit sind, ihren Kindern diese Freiheit einzuräumen. Die schriftliche Einwilligung der Eltern muß vorher vorgelegt werden; sie kann auch jederzeit wieder zurückgezogen werden.

An wem liegt's also, wenn das Schulschwänzen überhand

nimmt, wenn in einzelnen Klassen 30 Prozent der Schüler durch Abwesenheit statt durch Wissen glänzen? Nur am Gesetz, das mitzuhelfen bemüht war, die jungen Menschen zur Eigenverantwortlichkeit zu erziehen? Oder an den Eltern, die ihre unabdingbare Verantwortung nicht wahrnehmen, die nicht selbst eingreifen, wenn sie beobachten müssen, wie die schulischen Leistungen des Junior abgleiten? Oder sind auch jene Lehrer mitschuld, deren Unterricht zu wenig mitreißt, zu wenig Anregung gibt, mitzumachen?

Konsensbereitschaft zur Erhaltung der gemeinsamen Plattform des Bildungswesens ist unerläßlich. Sie ist nicht zu verwechseln mit Gemeinsamkeitsbeteuerungen nach außen und der versteckten Absicht, hintenherum zu erreichen, was im Konsens nicht durchzudrücken ist. Sie ist aber auch nicht gleichbedeutend mit kritiklosem Mitmachen und noch weniger mit widerstandslosem Uber-sich-ergehen-Lassen, was als nicht rechtens empfunden wird. Konsensbereitschaft zur Erreichung jenes Mittelweges, den Text und Geist der Schulgesetze fordern, ist durchaus vereinbar mit Konfliktbereitschaft im konkreten Fall, vor allem dort, wo Grundsätze in Frage gestellt werden. Den Konflikt aber über den Konsens zu setzen, wäre gefährlich.

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