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Die „spürbare Distanz“

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Aufnahmsprüfung an der Wiener diplomatischen Akademie im Theresianum. Die Kandidaten: junge Akademiker, Juristen, Handelswissenschaftler — Historiker. Das Stoffgebiet, aus dem — freilich eher in der Form zwanglosen Gesprächs denn als zermürbendes Rigorosum — Fragen gestellt werden: österreichische Geschichte, genauer gesagt, die jüngste Vergangenheit des Landes. Und nicht selten ist da die Antwort ein hilfloses: „Davon habe ich in der Schule nichts gehört“, was die Kommission mit einigem Ingrimm eben zur Kenntnis nehmen muß.

In Gesprächen, Diskussionen, Vorträgen, deren Thema die jüngste Vergangenheit und ihre — neubundesdeutsche Wortprägung — Bewältigung bildet, ist immer wieder davon die Rede, daß für die Aufklärung der Schüler höherer Schulen über das, was für die Väter noch keineswegs Geschichte ist, viel zuwenig oder gar nichts getan wird.

Drei feste Säulen stützen die Plattform, auf der der Schüler österreichischer allgemeinbildender höherer Lehranstalten das Gebäude seines Wissens errichtet:

• Der Lehrplan

• Die Lehrerausbildung und -fort- bildung

• Das Lehrbuch

Grundlage des Geschichtsunterrichts bildet bisher der provisorische Lehrplan für Mittelschulen von 1946, neu verlautbart 1955, der in wohlgesetzten Worten der Unter- und Oberstufe ihr Pensum an jüngster Geschichte festgesetzt.

Der Abschluß der Schulgesetzgebung erfordert neue Lehrpläne: am 30. Juli 1964 wurde der neue Lehrplan, der allerdings nur für die Unterstufe gilt, erlassen. Die eher allgemeinen Formulierungen des provisorischen Lehrplans werden hier deutlicher umrissen, heißt es doch etwa: „Das nationalsozialistische Deutschland und die Entfesselung des zweiten Weltkriegs. Auswirkungen politischer Propaganda. Der zweite Weltkrieg, Wesen des totalen Krieges. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Recht des Widerstandes.“

Eine Flut von Papier

Die Vorschriften, die der Lehrplan stellt, sind auftragsgemäß vom Lehrer zu erfüllen. Darüber hinaus wird in einem Erlaß vom September 1960 die Lehrstoffvertei- lung überaus genau vorgeschrieben …

Lehrpläne, Erlässe — Vorschriften. Papier. Denn die Wirklichkeit sieht im Geschichtsunterricht oft anders aus. Wohl haben Direktoren und Inspektoren die Pflicht, mit allem Nachdruck auf Einhaltung der Erlässe zu bestehen. Natürlich weiß man auch im Unterrichtsministerium von Widerständen. „Wir kennen die spürbare Distanz“, sagt man am Minoriten- platz sehr vorsichtig, „die mancher Lehrer zur jüngsten Vergangenheit hat.“ Der Bogen, den diese „spürbare Distanz“ umspannt, ist recht groß, reicht er doch von der Glorifizierung eigener heroischer Ruhmestaten über das Leugnen der an Juden begangenen Verbrechen bis zur Negation österreichischer Eigenstaatlichkeit. Was dagegen von der Schulaufsichtsbehörde unternommen wird? „Es ist“ — sagt das Unterrichtsministerium — „für den Inspektor ja nicht einfach, gegen einen älteren Lehrer vorzugehen.“

Die jüngere Lehrergeneration an Österreichs höheren Schulen bereitet den Inspektoren da viel weniger Sorgen: „Die Einstellung der Geschichtslehrer, die ihr Studium nach 1945 begonnen haben, ist zu Fragen der jüngsten Vergangenheit ganz anders.“

Nicht einmal Plichtkolloquium

„Ich habe zahlreiche Lehramtskandidaten ausgebildet, die heute schon unterrichten“, sagt Universitätsdozent Dr. Jedlicka, der an der Wiener Universität Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte lehrt. Zu den in zwei Zyklen — „Geschichte der Ersten Republik“ und „der zweite Weltkrieg“ — gehaltenen Vorlesungen sammeln sich an die 500 Hörer aller Fakultäten. Wie viele Lehramtskandidaten unter den Hörern sind, läßt sich nicht genau feststellen, doch hielte es Dozent Jedlicka für richtig, wenn sich sämtliche Kandidaten der Geschichte einem Pflichtkolloquium unterziehen müßten, „obwohl ich natürlich nicht gerne 800 Leute prüfen würde“. Im Unterrichtsministerium ist man anderer Ansicht: Ein weiteres Pflichtkolloquium würde den Grundsatz der Lernfreiheit noch mehr untergraben. Die Zeitgeschichte müßte vielmehr in einer neuen Lehramtsprüfungsordnung — die jetzt angewendete stammt von 1937 — fest verankert werden. Denn daß die Studienvorschriften für Lehramtskandidaten heillos veraltet sind, weiß man am Minoritenplatz ebenso wie an der philosophischen Fakultät. Die Reform der Lehrerausbildung wird da einiges grundlegend Neues schaffen.

„Die in der Schule gespürte Not“ —i- so das Ministerium — „mit der zeitgeschichtliche Fragen nach Behandlung drängten, brachte uns dazu, uns mit dem Thema auseinanderzusetzen.“ Auseinandergesetzt mit dem Thema „Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht“ hatten sich die Pädagogen auf der „Reichenauer Tagung“ im Dezember 1960. Das gemeinsame Gespräch zwischen Pädagogen und Historikern führte zu den Richtlinien und Empfehlungen, die für den Geschichtsunterricht aus jüngster Vergangenheit richtungsweisend waren.

Solange freilich das Fach „Zeitgeschichte“ dem Umfang nach nicht richtig umschrieben ist, solange Lehramtskandidaten nicht angehalten werden, sich mit der jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen, solange wird auch die Lehrerfortbildung für den bereits im Beruf stehenden Lehrer ins Leere treffen.

Wieder neue Bücher!

Etwas ratlos stehen die Experten derzeit der Frage der Lehrbücher gegenüber. Nicht vielleicht des Inhalts wegen, der ein „heißes Eisen“ sein könnte: die Schulgesetze sind es, die neue Bücher notwendig machen. Aus finanziellen Gründen ist es jedoch nicht immer möglich, die Bücher rasch auszuwechseln. Denn das vertragen weder Schüler- lade noch Elternbudget. Über den Inhalt des Geschichtslehrbuches sind sich „schwarz“ wie „rot“ im allgemeinen einig. Politischer Einfluß könnte höchstens beim Begutachtungsverfahren geltend gemacht werden, doch stehen da fachliche Qualitäten im Vordergrund. Dem Proporz freilich wird trotzdem kräftig geopfert: So etwa durch das Autorenteam eines besonders in Wien weitverbreiteten Lehrbuches, das der „österreichische Bundesverlag“ und der „Vertag für Jugend und Volk“ einträchtig herausbringen. Quellenhefte, Dokumentensammlung, schließlich die audiovisuellen Hilfsmittel — dies alles kommt zum Einsatz, um im Unterricht die letzten Jahrzehnte lebendig werden zu lassen.

„Der Weg geht nur über die Exaktheit des geschichtlichen Denkens; dies ist zunächst ein Anliegen geistiger Diszipliniertheit.“ So umriß Unterrichtsminister a. D. Doktor Drimmel die Methode, die der Lehrer im zeitgeschichtlichen Unterricht anzuwenden hat. An den Hilfsmitteln liegt es also — sichtlich — nicht. Die Methode scheint vorgezeichnet. Wenn also trotzdem manche Geschichtslehrer von ihren Kollegen geringschätzig als „Über- Österreicher“ belächelt werden, wenn Lehrer — und darin scheint, wenn schon nicht Absicht, so doch mangelnder guter Wille zu stecken — ihre Maturaklasse nur bis zum Berliner Kongreß führen, wenn sich der zeitgeschichtliche Unterricht in gewissen Klassen gewisser Schulen in der Schilderung zweifelhafter militärischer Ruhmestaten erschöpft, wenn…

Viele solcher „Wenn“ könnten noch angeführt werden. Aus Leserbriefen zitiert, aus persönlichen Gesprächen erfahren. Die Unterrichtsbehörden sind zweifellos ehrlich bemüht, diese vielen „Wenn“ aus der Welt zu schaffen.

Manches könnte freilich noch geschehen: das vollendete zweite Jahrzehnt der Republik könnte vielleicht Anlaß sein, die bereits sehr weit gediehenen Pläne - für eine großangelegte Ausstellung „österreichische Zeitgeschichte im Bild“ aus der Registratur zu holen, in der sie seit Jahren verstauben…

„Wir müssen aus unserem provisorischen Österreichertum herauskommen“ und „Lehren, Lernen, Prüfen und Klassifizieren garantieren keine Gesinnung und keine charakterliche Haltung“, sagte Dr. Drim- mel — damals noch Minister — voi' vier Jahren bei der Reichenauer Tagung.

Manche Geschichtslehrer müßten angehalten werden, diese beiden Sätze hundertmal abzuschreiben.

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