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Ein neuer Lehrbuchtypus im Geschichtsunterricht?

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Was den Handwerkern ein gutes Werkzeug, das sollte dem Studierenden und jedem Schüler ein gutes Lehrbuch bedeuten. Seit 1938 gibt es in Österreich kein Lehrbuch für den Geschichtsunterricht an den Mittelschulen. Die Lehrerschaft hilft sich mit dem Vortrag und läßt die Schüler Hefte führen, die Eltern sind insgeheim froh, in einem Fach wenigstens das Geld für ein Schulbuch sparen zu können. Und doch ist dies ein übler Zustand; wem die gründliche Bildung der Jugend am Herzen liegt, der muß das Erscheinen eines Schulbuches in einem für das Verständnis des menschlichen Lebens und Schaffens und die Heimatliebe so wichtigem Fache wie Geschichte begrüßen.

Warum es bis jetzt gerade in unserem Fache zu keinem echt österreichischen Lehrbuch gekommen ist, läßt sich nur mit einer Vermutung beantworten. Das Land ist durchschnitten von weltpolitischen Ideen und in seinem Innern kreisen ungehindert und frei gegensätzliche Weltanschauungen. Wie kann da ein Geschichtsbuch die Billigung aller Österreicher finden, denn Geschichtsunterricht fordert immer ein Stellungnahme zu den Geisteshaltungen der Vergangenheit, aber auch der Gegenwart. Das ist die landläufige Meinung.

Ihr kann der Historiker nur eine Antwort entgegenstellen: gewiß, der Geschichtsunterricht erfordert eine Stellungnahme, aber es gibt nur immer eine mögliche: die Wahrheit weiterzugeben und ihr Licht, worauf das Heil der Menschheit beruht (aus der Sponsionsformel für die Doktoranden der Philosophie). Nichts kann mehr unserer Jugend dienen, als sie zur Objektivität und zur Wahrheitsliebe zu erziehen.

Die Wahrheit im Geschichtsunterricht ist aber allein gegeben durch die historischen Fakten, die uns unleugbar kritikfeste Quellen überliefern. Die Idee des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ist eine Tatsache wie die Idee des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn und seine dynastische Entwicklung; die Bedeutung Josephs II. kann nur der erkennen, der um sein Wollen und die Ergebnisse seiner Reformen weiß. Dies alles und noch mehr bringt das Quellenmaterial ans Licht der 'Wahrheit. Die Universität soll die Wahrheit erforschen, die Mittelschule hat die wichtigsten Forschungsergebnisse, sobald sie gesichert sind, zu vermitteln und die Liebe zum Aufsuchen der SPahrheit zu wecken.

Daher muß auch ein Lehrbuch für die Mittelschule diesen Weg von den Quellen ur Erkenntnis deutlich machen. Wie stand s bisher damit?

“Wir hatten vor 1938 Geschichtsbücher, die den Lehrer zu ersetzen suchten; es waren durchwegs Geschichtsdarstellungen, schulmäßig eingeteilt in Kapiteln und Paragraphen. Wohl kann diesen Büchern das Streben nach Objektivität nicht aberkannt werden und doch zeigt selbst ein so gutes Lehrbuch wie Zeehe-Nepomucky zeitpolitisch bedingten Charakter und wird deshalb heute abgelehnt. Und was hat neben einem solchen Buch der Lehrer noch zu tun, was tat er? Er ließ Kapitel streichen, setzte Neues ein, gab seine Anmerkungen, versuchte das trocken Dargebotene lebhafter zu gestalten. Mancher verzichtete vollkommen auf die Benützung des Buches in der Unterrichtsstunde — und der war nicht der schlechteste.

Wie müßte nun ein Geschichtsbuch aussehen, das die Billigung aller Österreicher finden könnte und den Arbeitsunterricht fördert?

Es darf vor allem keine Darstellung und Stellungnahme sein; die überlasse man dem Lehrer in der Mittelschule, der dadurch beweisen soll, daß er den alten Titel Professor (das ist Bekenner, und zwar der Wahrheit) noch verdient; traut man unserem Stande nicht, will man uns überall zentral und parteipolitisch gängeln, dann gebe man uns wenigstens den Namen „Pauker“, damit die Grenzen klar gezogen sind.

Die Darstellung sei also ausgeschlossen, mit Ausnahme einiger Beispiele künstlerisch vollendeter Historiographen oder solcher Historiographen, die selbst 6chon Quelle sind. Das Buch soll am Anfang eines Zeitabschnittes eine möglichst anschauliche Übersicht über die Ereignisse geben, den Stundenbildern vergleichbar, die bisher der Lehrer dem Schüler zur besseren Einprä-gung gab. Daran konn sich nun eine pädagogisch wohlüberlegte Auswahl von Quellen reihen. Das von Leo Santifaller herausgegebene Tafelwerk „110 Jahre österreichische und europäische Geschichte“, zusammengestellt au Urkunden des österreichischen Staatsardiivs, beweist ja jetzt schon sein gute Verwendbarkeit im Mittelschulunterricht, obwohl das Herumzeigen und Selbstvorlesen kein pädagogischer Idealfall ist. In der Schweiz erschien wiederum vor Jahren bereits ein Quellenlesebuch zur Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, das gleichfalls eine recht glückliche und in den Zeitgeist einführende Auswahl bringt. Also Beispiele genug!

Die gebotenen Quellen sollen natürlich übersetzt sein, manchmal kann auch ein Originaltext und eine Photokppie beigegeben werden. Der vorsichtigen Quellenauswahl könnten Kartenskizzen folgen, die den Geschichtsatlas ersetzen. Was die bisherigen Geschichtsatlanten an Karten boten, war ohnedies zu viel und konnte nicht voll verwertet werden. Geschlechtertabellen dürfen von Zeit zu Zeit nicht vergessen werden. Zum Abschluß eines jeden Zeitabschnittes gehören eine kurze Zusammenstellung dessen, was aus dieser Zeit heute noch nachwirkt (zum Beispiel Bräuche, Ortsnamen und Straßenbezeichnungen), Wiederholungsfragen und Verstandesaufgaben (zum Beispiel: Verhältnis der Sage zum historischen Kern bei Richard Löwenherz. — War der Augsburger Religionsfriede eine Fehlentwicklung oder ein Notwendigkeit. Begründung. — Entwicklung der Erblichkeit des Lehens und ähnliche Vorgänge im Alltagsleben usw.).

Das so entstandene Buch ist nun wirklich ein brauchbares Werkzeug zum selbständigen Denken und leichten Einprägen der Tatsachen. Wird es dem Schüler in die Hand gegeben, so ist es ihm vorerst ein Buch mit sieben Siegeln. Erst die Kunst des Lehre-s und die Mitarbeit der Schüler entsdilüsselt nun Seite für Seite das historische Geheimnis, führt in abwechselnder Methode von Entdeckung zu Entdeckung und lehrt selbständig denken. Der Lehrer wird dabei zum richtigen Führer durch die Jahrhunderte, Vergil vergleichbar, der Dante schauen ließ.

Es wurde bei dieser Anregung in erster Linie an die Oberstufe der Mittelsdiulen ge-dadit. Aber auch für die Haupt- und Unter-mittelschule gilt ähnliches. Das bisher erschienene Lehrbuch „Aus alter und neuer Zeit“ ist für die erste Klasse noch die richtigste Form. In der zweiten Stufe sollte man schon mehr an Stelle der Schilderung die Quellen, in diesem Fall griechisch-römi-sdie Sagen, Fundbilder, alte Historiker sprechen lassen. Dann geht es über mittelalterliche und neuzeitliche Sitten und Bräuche, Wohnverhältnisse und Trachten (als Quellen der dritten Stufe) in das 19. Jahrhundert (vierte Stufe), wo der Unterricht aus Quellen schon leicht durchzuführen ist.

Was hier gesagt wurde, hat sich wohl manch anderer auch schon in einer stillen Stunde gedacht. Die Aufgabe jedoch ist schwierig und müßte bald gelöst werden. Einer allein bringt dies neben der Schule nicht zusammen; eine Gemeinschaft, die vorerst die versdiiedensten Quellenbeispiele und anderes Ansdiauungsmaterial sammelt, bewältigt die Aufgabe leicht. Die methodische Gestaltung bleibe den Pädagogen der Mittelschule vorbehalten, in der Quellenauswahl darf aber der Rat der gründlichsten Quellenkenner an der Universität nicht überhört werden. — Nur der Unterricht in der Geschichte des Altertums ist sdiwer aus den Quellen zu gestalten; aber hier erwarten wir ohnedies mit Spannung das von Heilsberg-Korger zusammengestellte Lehrbuch.

Woher aber soll die Initiative kommen? Privat oder von einer Dienststelle? Die Hauptsache wird sein, daß die Anregung zuerst besprochen, und daß dann auch etwas getan wird.

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