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Prestige macht Schule

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Die „Realschule", von den einen als Zukunftslösung betrachtet, wird von anderen kategorisch abgelehnt. Der Autor, Lehrstuhlinhaber für Pädagogik an der Universität Passau, kämpft gegen sie vehement an. Gesellschaftspolitisch stempelt er ihre Einführung zum „reaktionären Akt". Stoff für kontroverse Diskussionen.

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Die „Realschule", von den einen als Zukunftslösung betrachtet, wird von anderen kategorisch abgelehnt. Der Autor, Lehrstuhlinhaber für Pädagogik an der Universität Passau, kämpft gegen sie vehement an. Gesellschaftspolitisch stempelt er ihre Einführung zum „reaktionären Akt". Stoff für kontroverse Diskussionen.

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In der Steiermark wird ab dem Schuljahr 1991/92 an verschiedenen Standorten der Schulversuch „Realschule" durchgeführt. Aus der Modellbeschreibung der beim Landes-schulrat eingerichteten Projektgruppe geht hervor, daß sie für die Zehn-bis 16jährigen konzipiert ist und mit der Mittleren Reife abschließt.

Im Hinblick auf die Schülerzahl und auch auf die Annahme des neuen Schultyps durch die Lehrer der Hauptschule und des Polytechnischen Lehrgangs wird die Realschule ein „Hit" sein: Jedes Elternpaar, dessen Kind mittleren Ansprüchen einigermaßen gerecht zu werden verspricht, wird der Hauptschule entfliehen, und auch die Lehrer werden gerne dem Sog der prestigehöheren Schule folgen. Die hauptsächlichen Motive, die hinter dieser Veränderung der Schullandschaft in derzweiten Hälfte der Pflichtschulzeit stehen, sind nicht eigentlich pädagogischer Natur, sondern entstammen personal- und gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen.

Die Hauptschule und ihre Lehrerschaft leiden unter der „Abstimmung mit den Füßen", welche die Eltern zugunsten des Gymnasiums durchführen. Daß die Umlenkung der Schülerströme auf die Realschule die Hauptschule erst recht zur Restschule machen wird, die dann ihren stolzen Namen gegen die Bezeichnung „Nebenschule" eintauschen muß, stört sie nicht, weil sich doch die Lehrerschaft der Realschule fast ausnahmslos aus der Hauptschule und dem Polytechnischen Lehrgang rekrutieren soll. (Daß die Sorgen der Lehrer berechtigt sind, soll nicht bestritten werden, nur die Abhilfe muß von anderer Art sein.)

Gesellschaftspolitisch ist die Einführung der Realschule ein reaktionärer Akt, ein Rückschlag für die Entwicklung hin zu einer dem demokratischen Staatswesen angemessenen Schule. Sie ist in ihrer schulorganisatorischen Position im wesentlichen die Restauration eines dem sei-nefzeitigen Ersten Zug vergleichbaren mittleren Gliedes. Mit ihm wird die einer ständischen Gesellschaft adäquate vertikale Schichtung aufs neue zementiert. Die Realschulen der alten Bundesrepublik stehen Pate, auch wenn sie sich erst mit der siebenten Schulstsufe von der Hauptschule abspalten und von speziell ausgebildeten Lehrern betreut werden.

„Bastard Neue Hauptschule"

Österreich hätte keinen Anlaß, hinter den Stand der Diskussion um die seinerzeitigen zwei Züge der Hauptschule zurückzufallen, wenn die sogenannte Schulreform der siebziger Jahre nicht den Bastard der Neuen Hauptschule mit ihren Leistungskursen geboren hätte. Aus den Fehlem klug geworden, sollten wir wenigstens jetzt den Schritt nach vorne tun und die eine Schule für die Zehn- bis 15jährigen schaffen. In ihr würden die Arbeitsplätze für die verschiedenen Lehrertypen gerecht verteilt werden können, bis eine einheitliche, universitäre Bildung des Mittelstufenlehrers diese Frage ohnehin obsolet sein lassen wird.

Natürlich wagt es heute kaum jemand, das ständische Motiv öffentlich zu verteidigen, sondern es wird das Leistungsargument vorgeschützt: die Bildung der Eliten. Als ob nicht eine imponierende Zahl von empirischen Untersuchungen und vor allem die gigantischen Experimente, die von unterschiedlichen nationalen Bildungssystemen vorexerziert werden, längst bewiesen hätten, daß heterogene oder homogene Schülerzusammensetzung in der Pflichtschulzeit (und darüber hinaus) mit der Höhe der eng definierten und mit der Lebensleistung oft nur spärlich korrespondierenden Schulleistung wenig zu tun haben. Der Tendenz nach wirft sogar die Heterogenität für alle - insbesondere für die Tüchtigen - spürbar mehr ab. Von den entscheidenden Auswirkungen der frühen oder späten Selektion auf das Schulklima, auf die gesamtmenschliche Entfaltung der Schüler und nicht zuletzt auf die Mentalität der Lehrer wird noch zu reden sein. Diese dominanten Faktoren für die Güte einer Schule werden massiv verändert, je nachdem, ob die Klasssenzusammensetzung vom Prinzip der Gleichheit bestimmt wird oder ob die bunte Vielfalt gegeben sein soll, wie sie der natürlichen Streuung in einem Sprengel entspricht.

Die Verteidiger des gestuften Schulsystems der Pflichtschulzeit geben vor, ein demokratisches Recht auf die schulische Abgrenzung ihrer Kinder von den übrigen zu haben. (Dieses Recht wird natürlich nie im Hinblick auf die Hauptschule bemüht, deren dritter Leistungskurs ja doch auch für die schwachen Schüler arrivierter Eltern das adäquate Niveau darstellte, wenn schon sortiert werden soll.)

Die besagte Rechtsauffassung widerspricht aber der mittlerweile in der international anerkannten Rechtsphilosophie ausformulierten Überzeugung, daß Ungleichheiten in der Verteilung der Früchte gesellschaftlicher Zusammenarbeit nur dann gestattet sind, wenn sie zu jedermanns Vorteil beitragen. Schulische Selektion dürfte demnach von elitär denkenden Gruppen für sich in Anspruch genommen werden, wenn auch die Schwachen davon profitierten.

Schulische Selektion aber grenzt nach unten aus und verschlechtert dadurch die Situation der Schwächsten immens. Es kommt zu katastrophalen Zusammenbrüchen der Lem-bereitschaft. Wenn die zukünftigen „kleinen Leute" keine Vorbilder erleben, keine Mitschüler mit geistreichen Sprachschöpfungen, mit einfallsreichen Vorschlägen für die Lösung von Problemstellungen in den verschiedensten kulturellen Leistungsbereichen, Mitschüler, deren Faszination sie mitreißt, wird kein Nährboden für eine breite allgemeine und berufliche Volksbildung aufbereitet. Man braucht sich dann auch nicht zu wundern, daß viele Berufsschüler keine Bücher lesen...

Heranwachsende, denen jahrelang durch institutionelle Isolation eingebleut wird, daß sie minderwertig sind, werden sich alsbald minderwertig fühlen und sich nichts mehr zutrauen.

Menschen, deren Selbstwertgefühl durch ständige Verletzungen kümmerlich geblieben ist, sind gefährdet, sich mit starken Verführern zu identifizieren, und entwickeln eine naive Gläubigkeit gegenüber primitiven Ideologien. Wer dies bedenkt, dem wird Schulpolitik in einem vertieften Sinne zur Gesellschaftspolitik eines demokratischen Staatswesens: Unsere Vorfahren haben erkämpft, daß alle Staatsbürger mit gleicher Stimme die politische Zukunft mitentscheiden. Uns ist es aufgetragen, die überfälligen schulpolitischen Nachbesserungen zu leisten, damit jeder Wähler gleiche Chancen für die Ausbildung mündiger Entscheidungen zugebilligt bekommt. Wer zur Ausrede Zuflucht nehmen möchte, daß es die „minderen Bruder" als Erlösung erleben würden, von den intellektuell besser ausgestatteten getrennt zu sein, der möge sich einmal die Klagen anhören, welche die Zurückgestoßenen nach den Ausleseprozeduren äußern.

Die Argumentation gegen eine gestufte Pflichtschule ließe sich übrigens auch von Seiten der Begabten führen, die ihre Schulzeit in den höheren Rängen verbringen dürfen. Die Abschaffung des Wasserfallsystems mit dem Sog nach unten würde viel Angst vor dem Abgetriebenwerden und Abstürzen von ihnen nehmen und sie ungestört für das Interesse an der Sache frei machen. Wir sehen viel zu wenig, wie es auch Gymnasiasten statt um Kulturbegegnung oft nur ums Überleben geht und wie sie sich mit den Vierem begnügen: „Ein Vierer ist genau richtig; man braucht nicht zu viel zu tun, und die Ferien sind doch gesichert" (Ausspruch eines 17jähri-gen). Es müßte vom Wert des Lehrens für das Lernen gesprochen werden, den diverse Tutorenmodelle anbieten. Nicht zuletzt ist vor der Gefahr zu warnen, daß die Jugend schon in frühen Jahren verlernt, miteinander Kontakt zu haben, was zu bedrohlichen Entfremdungsprozessen führen kann.

Es wäre an der Zeit, auch ausführlich über die vom gestuften System ausgehende Verführung des Lehrers zu einem artfremden diagnostizierenden und aburteilenden Rollenverständnis zu sprechen und auch von der Überforderung seiner Hilfeleistungskapazität, wenn er vor Klassen mit ausschließlich schwachen Schülern steht. Schließlich sei noch auf den großen Vorteil einer nicht-selek-tierenden Pflichtschule verwiesen: Jeder Ort, in dessen Sprengel jährlich rund 20 Kinder geboren werden, behielte die Schüler bis zum Ende des 15. Lebensjahres zu Hause. Dies käme nicht nur sehr viel billiger als die derzeitigen „Umstände", es würde auch die regionale Chancengerechtigkeit kräftig vorantreiben.

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