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Rund um die Einheitsschule

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„Bildung für alle“ lautete das Generalthema, unter dem die Unterrichts-tninister der Europaratstaaten im Mai im Schloß Versailles bei Paris zu ihrer 6. Konferenz zusammenkamen. Diese längst selbstverständlich gewordene Forderung stand auch im Zentrum der Bemühungen der österreichischen Schulreform von 1962, wie die nun wieder ins Rollen gekommene Diskussion um notwendige Neuerungen. Vor Beginn der Verhandlungen um eine Revision der Gesetze von 1962 haben die Sozialisten ihre alte Forderung auf eine für alle Kinder gemeinsame Mittelstufe neu angemeldet, die Hauptschule und Untermittelschule vereinen soll. In Schweden geht man über dieses Ziel hinaus — in der CSSR kehrt man ihm, auf Grund der Erfahrungen von 15 Jahren, bereits wieder den Rücken. Stockholm und Prag bieten heute zwei Modelle, die beobachtet werden sollten, bevor man bei uns zu tiefgreifenden Reformen schreiten will.

Schweden geht am weitesten

Schwedens Erziehungsminister Olaf Palme schilderte in Versailles das System der Einheitsschule, wie sie in seinem Land besteht — aber noch mehr, wie sie sich ab 1970 in völlig neuer Form darbieten soll. Für die Einheitsschule haben sich in Europa drei Modelle entwickelt: Das erste bietet eine organisatorische, nicht aber bildungsmäßige Einheit, da die Schüler, je nach Begabung, in verschiedenen Parallelzügen geführt werden. Der zweite Typ stellt neben einem für alle verbindlichen Kern-

lehrplan eine Reihe von Freifächern je nach Intelligenz und Interesse zur Auswahl. Schweden geht nun zum dritten Typ über, zur perfekten Einheitsschule, in der „ein individueller Spielraum nur noch im Rahmen der allgemeinen Klassenarbeit“ gegeben ist

Aber nicht nur das — die Einheitsschule, heute in Schweden neunjährig, soll noch weiterreichen. Es besteht die Absicht, das gesamte „obere Sekundarschulwesen“ — allgemeinbildende, berufsbildende Schulen und Lehrlingsausbildung — in einem System zu vereinen und für alle Sechzehn- bis Neunzehnjährigen verbindlich zu machen

Soweit die Schweden, deren Ausführungen in Versailles lebhaft von den Briten unterstützt, von den anderen dagegen eher skeptisch aufgenommen wurden. Berlins Kultursenator Corl Heinz Evers, selbst alter Sozialdemokrat, warnte davor, in der Gesamtschule, wie sie in verschiedenen deutschen Ländern bereits ausprobiert wird, die Wunderlösung aller pädagogischen Problem zu erwarten.

Erfahrungen nach 15 Jahren

Und was sagen jene, die die Einheitsschule 15 Jahre lang ausprobieren konnten? Ing. Karel Spurny, Prag, bekennt sich genauso zuir Parole seiner westlichen Kollegen, allen Kindern, gleich welcher Herkunft, die optimalen Bildungsmöglichkeiten zu bieten. In der CSSR glaubte man dies 1953 mit der Einführung der neunjährigen allgemei-

nen Pflichtschule erreicht zu haben, die erst in den letzten beiden Jahren — also bei den 13- und 14j ährigen — eine Differenzierung nach Begabung und Interessen (und im Hinblick auf den weiteren Bildungsweg) bot. Auf sie baute nach dem 15. Lebensjahr entweder eine sehr intensiv betriebene Lehrlingsausbildung in den Lehrwerkstätten der Industrie oder eine dreijährige allgemeinbildende Mittelschule oder eine — je nach Fachrichtung — drei-oder vierjährige berufsbildende höhere Schule (mit Fachmatura) auf. Aber schon nach wenigen Jahren erkannten die Pädagogen, daß die Differenzierung in den letzten beiden

Jahren zu spät sei — also zog man sie um ein Jahr vor. Nun boten also schon die drei letzten Jahre — also etwa entsprechend für Österreich von der dritten Klasse Hauptschule oder Gymnasium an — verschiedene Bildungsmöglichkeiten, wobei

strenge Tests feststellen sollten, welche Kinder für welche Typen in Frage kamen. Aber — versichert Spurny — auch der Wunsch der Eltern wird berücksichtigt.

Wie im alten Österreich

Kaum hatte im Vorjahr die Liberalisierung dem Land neuen Aufschwung gegeben, als Schulminister Vladimir Kadlec daranging, den

Vorhaltungen der Pädagogen zu entsprechen und ideologischen Ballast abzuwerfen. Nicht nur, daß nun die bisher auf drei Jahre beschränkt allgemeinbildende Mittelschule ab Herbst 1969 wieder auf vier Jahre verlängert wird — sie erhalt auch wieder den Lateinunterricht. Aber mehr noch und schon früher: Seit dem Herbst 1968 gibt es wieder — wie einst — achtjährige Gymnasien, die auf fünf Grundschuljahren aufbauen und damit nach 13 Schuljahren zu einer für alle Hochschulstudien berechtigenden Matura führen, ganz wie im alten Österreich.

Soweit Ost und West und ihre Erfahrungen und Vorstellungen von der Einheitsschule. Die in Versailles anwesenden Erziehungsminister oder ihre Vertreter faßten die Ergebnisse der Tagung in mehreren Resolutionen zusammen, von denen vor allem der Hinweis bemerkenswert war, daß der Zeitraum der systematischen Erziehung, also der Vollschulpflicht-zeit in Zukunft für alle Jugendliche auf elf oder gar zwölf Jahre ausgedehnt werden müsse. — Österreich steht erst bei neun und ist dabei, die weiterführende Schule zu kürzen..

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