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Schule fürs Leben

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In zwei wahrhaft erschütternden Aufsätzen — erschütternd für den, der das Anliegen sehen will — hat Dr. Anna Harmer in der „Furche“ die Lage der Frau von heute geschildert. Während sie von der zunehmenden Verlorenheit auch jene Frauen nicht ausnehmen kann, die ernsthaft und verdienstvoll in ihrem Beruf arbeiten („Das verlorene Geschlecht“, 8. Jahrgang, Nr. 34 vom 23. August 1952), zeigt sie die Ursachen in der Ueberforderung der modernen Frau auf und sieht den letzten Ausweg in der E r z i e-hungzur zweiseitigen Tätigkeit („Die Ueberforderung der modernen Frau“, 9. Jahrgang, Nr. 4 vom 24. Jänner 1953). So erklärt sie die gegenwärtige Mädchenerziehung als „merkwürdig unernst, zumindest in breitesten Kreisen“, als „reine Allgemeinbildung oder Berufsbildung in männlicher Ausrichtung“, was auch durch die Tatsache bewiesen ' werde, daß „die Mädchenhaupt-und -mittelschulen, daß Lehrerinnenbildungsanstalten dieselben Lehrpläne und Lehrbücher haben wie die männlichen Anstalten gleicher Richtung“.

Ist nicht schon die Tatsache bezeichnend, daß in der letzterschienenen zahlenmäßigen Darstellung des Schulwesens in Oesterreich die Mädchenrealgymnasien überhaupt nicht erscheinen, vielmehr bloß festgestellt wird, daß von den insgesamt 37.390 Besuchern des Realgymnasiums 17.289 weiblichen Geschlechtes sind (davon 2614 an privaten Anstalten dieses Typs), Lehrplänc und Lehrbücher eines Mädchenrealgymnasiums unterscheiden sich fon den männlichen Anstalten gleicher Richtung nicht. (Vgl. die „Provisorischen Lehrpläne für die Mittelschulen 1946.o) Die Trennung in Knabenklassen und Mädchenklassen in den Gegenständen „Handarbeiten“ und „Leibesübungen“ kann wohl nicht gegen diese Behauptung ins Treffen geführt werden! Da ferner diese Lehrpläne auch heute noch — sieben Jahre später — ein Provisorium darstellen, wird man vergeblich etwa in einem „Allgemeinen Teil“ nach einem wesenhaften Bezug auf die Verschiedenheit der Geschlechter und den sich für Erziehung und Unterricht daraus ergebenden Konsequenzen suchen. Freilich, auch das Mittelschulgesetz vom 2. August 1927 begnügt sich in den „Grundsätzen des Unter-Irichts“ mit einem kurzen Hinweis auf die ^Notwendigkeit“ einer verschiedenen Aus-Wahl des Lehr- und Unterrichtsstoffes und auf die „verschiedene Art der Darbietung und Behandlung des Stoffes“ und der anders gearteten Einstellung des Lehrers. Bloß die Bil-dungsidee der Frauenoberschule (nach der erwähnten Statistik besuchen 2723 Schülerinnen solche Anstalten) wird kurz umrissen als „Verknüpfung des wissenschaftlich begründeten neuzeitlich-europäischen Weltbildes mit dem Gedanken des persönlichen Dienstes am Mitmenschen, wie er einerseits in der naturgegebenen Mütterlichkeit allen Frauentums wurzelt, anderseits aus der Stellung der Frau Im Familienleben hervorgeht“. Ob die lehrplanmäßige Durchführung dieser letzten Endes intellektualistisch gesehenen Bildungsidee gerecht wird, steht hier nicht zur Debatte. Jedenfalls wird hier wenigstens eine eigene Bildungsidee postuliert! Aber für Hie 1 7.2 89 Besuche rinnen der M ä d c h e n r e a 1 g y m n a s i e n sollte überhaupt keine, eigene Bildungsidee in Frage kommen?

Als man 1945 daranging, das österreichische Schulwesen neu aufzubauen, verhallten selbst die Mahnungen eines Fachmannes wie Dr. Josef Lehrl so gut wie ungehört, der damals von einem „Pädagogischen Neuland“ schrieb, dessen Pflege „viel dringender und interessanter wäre als die Arbeit auf den üblichen Bauplätzen der Bildung“. Gewiß werden sich die Landesschulinspektoren auf der vielzitierten Tagung in Neubruck bei

Scheibbs gewissen Forderungen nach Sichtung und Abänderung des Lehrstoffes an den Mädchenmittelschulen, etwa in Hinsicht auf ihre allgemeine oder spezielle Bedeutung für Mädchen, nicht verschlossen haben. Und sollte es nicht möglich gewesen sein, wenigstens die Frage der praktisch-fraulichen Fächer als Freifächer oder Arbeitsgemeinschaften an den Mädchenrealgymnasien zu ventilieren? Dr. Sieglinde Rödleitner hat einmal geradezu kategorisch erklärt: „Jede Mädchenmittelschule muß in ihrem Lehrplan die praktische hausfrauliche Ausbildung gewährleisten: Kochen und Hauswirtschaftslehre, Säuglingspflege und Lebenskunde, und auf die Bildung des Geschmacks in Kleidung, Wohnung besonderen Wert legen, in Handarbeit und Kunsterziehung. Die nur einseitig wissenschaftlich gebildete Frau muß eine Ausnahme sein!“

Die Geschichte der österreichischen Mädchenmittelschule böte eine weitere Zahl von Belegen für das Vorgebrachte. Wenn ich resümiere, könnte ich in etwa formulieren: Wenn die Schule ihre Aufgaben, neben der Familie die wesentliche Stätte der werdenden Persönlichkeit darzustellen, erfüllt, und der Formung des ganzen Menschen — nicht nur einer einseitigen intellektuellen Schulung — dient, dann muß man es in ihrem Rahmen für das Mädchen zu denjenigen Werterlebnissen kommen können, die für die Bildung seiner Persönlichkeit von ausschlaggebender Bedeutung sind. Diese Werterlebnisse können aber nur dann zustande kommen, wenn der Unterricht die hierfür nötigen Voraussetzungen schafft, das heißt, alles in die Lebenssphäre des Mädchens hineingestellt wird, um Erlebnis werden zu können. Solche Voraussetzungen können geschaffen werden, wenn unter Berücksichtigung der weiblichen Eigenart die entsprechende StofFauswahl vorgenommen wird und die Bildungsgüter anders als bisher erarbeitet werden.

Freilich, eigene Lehrpläne und eigene Lehrbücher für Mädchenrealgymnasien dürften noch lange ein Fernziel bleiben, doch enthebt uns dies nicht der Verpflichtung — nach vorangegangener Erkenntnis der Situation —, Nahziele im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten in Angriff zu nehmen und tatkräftig zu verwirklichen. Wege und Mittel, in vorangegangenen Darlegungen und Aufzählungen angedeutet, seien hier nochmals unterstrichen und in eine Art vorläufiges System gebracht:

Sichtung und Auswahl des Lehrstoffes im Sinne des „Maßnahmen-Erlasses“. Neue Rangordnung der Fächer im Sinne der „musischen Erziehung“.

Gestaltung des Lehrstoffes durch „verschiedene Art der Darbietung und Behandlung des Stoffes (also im Lehrvorgang) und in der anders gearteten Einstellung des Lehrers (gleichviel ob Mann oder Frau) zur Klasse und der Klasse zum Lehrer“ (Lehrplan des österreichischen Realgymnasiums 1927). Echter Konzentrationsunterricht.

Gewährleistung einer praktisch-fraulichen Ausbildung durch Intensivierung des Freigegenstandes Kochen und Hauswirtschaftslehre (8. Kl.), Säuglingspflege (8. Kl.), kursmäßig eingebaut in den obligaten Lehrgegenstand Naturgeschichte, Sachgebiet Körper-und Gcsundhcitslehre des Menschen, das von der 7. in die 8. Klasse verlegt werden müßte, und Lebenskunde (für die gesamte Oberstufe), nicht als zusätzliche Belastung, sondern im Sinne eines lebensnahen Unterrichtes an der Mittelschule. Die dazu erforderliche Zeit müßte durch eine geschickte Auswahl des Lehrstoffes und Ausscheidung des Wirklich-Entbehrlichen und eine dadurch ermöglichte Reduktion des Stundenausmaßes gewonnen werden können. Mädchenhandarbeit müßte für alle Klassen obligat werden.

Feste und Feiern der Schulgemcinde im Dienste der musischen Erziehung.

Heranbildung eines Ethos des jungen Mädchens bis zu jenem innersten Kreis, „wo das letzte erlösende Wort für die neue Persönlichkeit und Gemeinschaft gesprochen wird, das Wort, das all das müde, abstrakte Gerede vom Humanismus zu dem Nichts entzaubert, das es in Wahrheit ist, und die konkrete Tat der schlichten Menschlichkeit lehrt, die alle kennen, die guten Willens sind“ (Lehrl).

An der Spitze eines so skizzierten Bildungssystems für Mädchen hätte der Satz von Eduard Spranger zu stehen: „Jede Bildung hat das Gesetz der Sache mit dem Gefüge der Seele zu vermählen.“

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