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Deutschland: Die Wunde in Europa

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Auf der Basis von Helsinki, Europas Hausordnung, präsentierte Bundeskanzler Kohl einen Zehn-Stufen-Plan zur deutschen Einheit. Deutschland als Vorreiter eines „größeren Europa“?

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Auf der Basis von Helsinki, Europas Hausordnung, präsentierte Bundeskanzler Kohl einen Zehn-Stufen-Plan zur deutschen Einheit. Deutschland als Vorreiter eines „größeren Europa“?

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Die Deutsche Demokratische Republik bewegt sich. Und bewegt erst recht die Gemüter. Wohin bewegt sie sich? In Richtung Bundesrepublik, ins Land „jenseits der Elbe“ oder - um im floppigen SED-Jargon zu sprechen - ins „Reich der saturierten Bundis“? Friedrich Schiller kommt einem in den Sinn: „Deutschland, Deutschland, wo liegst du? Ich weiß das Land nicht zu finden.“

Und als sei dies eine ach so einf ache Frage, meinte Ende Oktober der Sprecher des Zentralkomitees der KPdSU, Schischlin, wie es in Europa weitergehen werde, „das hängt allein von den Deutschen ab“.

Die Öffnung der Berliner Mauer, dieser historische Augenblick, läßt gesamtdeutsche Gefühle in allen Farben aufflammen. Was j ahrelang unter den Tisch gekehrt wurde, ist plötzlich buchstäblich auf der Tischplatte. Vor einem Jahr als „Revisionist“, als „Ewig-Gestriger“ beschimpft, zitiert nun jeder, der etwas auf sich hält, den am Bodensee lebenden Schriftsteller Martin Walser: „Wir alle haben auf unserem Rücken den Vaterlandsleichnam, den schönen, den schmutzigen, den sie zerschnitten haben, daß wir jetzt in zwei Abkürzungen leben sollen. Wir dürfen die BRD ebensowenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.“

Offene Gedankenspiele füllen die bundesdeutschen Medien: Von der linksalternativen „taz“ bis zur rechtslastigen „Welt“ fragt man, was wird, wenn sich die sozialistische DDR wie eine Brausetablette auflösen wird? Ein neues, großes Bundesland? Ein 13. EG-Staat?Teil einer deutschen Konföderation? Oder trotzt die DDR - obwohl wirtschaftlich ausgeblutet - jeder Neuvereinigung?

Gedanken über Gedanken macht sich die Hamburger „ Zeit“ und will sich jetzt nicht mehr festlegen, wie noch vor sieben Wochen im Edito-rial: „Die deutsche Frage steht auf einer der hinteren Herdplatten der Weltpolitik.“ „Spiegel“ -Herausgeber Rudolf Augstein, stets Warner vor einem „Vierten Reich“, entdeckt auf einmal die „deutsche Seele“:

„So nationalistisch, wie die vier Alliierten und sogar Italien sind wir immer noch nicht und werden es auch als Euro- Wirtschaf tsmacht nicht sein.“

Und jenseits des (vorerst noch) geschlossenen Brandenburger Tores? Deutschland bleibt Deutschland: Die Bilder ähneln sich. Im Oktober, als in Leipzig die größten Demonstrationen deutscher Nachkriegsgeschichte ihren Lauf nahmen, als der Frühling im Herbst viele zum ersten Mal an eine DDR-Identität glauben ließ, da stand auf den Spruchbändern: Packt die Wiedervereinigungsrhetorik zur Endlagerung historischen Mülls. Wir woMen freie Wahlen, Wohlstand • und unsere eigene Demokratie. Wäre damals jemand aufgetreten mit der Parole: „Deutschland, einig Vaterland“, man hätte ihn als Stasi-Provokateur beschimpft.

Dann öffnete sich die Mauer und die Ostdeutschen konnten erstmals mit eigenen Augen sehen, wie saturiert die Bundesbürger tatsächlich leben. Das Verlangen, Teil dieses Wohlfahrtsstaates zu sein, wurde unüberhörbar. Mit voller Inbrunst stimmt man nun jene Strophe aus der DDR-Nationalhymne an, die seit Honeckers Mauerbau 1961 verpönt und öffentlich zu singen verboten war: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland,einig Vaterland.“ Der am Wochenende abgetretene Honecker-Nachfolger, „Wendehals“ Egon Krenz, begann zu relativieren

(wie das Lutz Rathenow gegenüber der FURCHE prognostiziert hatte, FURCHE 47/1989, Seite 1, Anm.d.Red.). Vor einer Woche verabschiedete er sich von seiner Floskel: „Die Wiedervereinigung steht nicht zur Debatte“ und 'sprach immerhin von einer „möglichen Konföderation beider deutscher Staaten“ (in einem Interview mit der „Financial Times“).

Doch den größten Clou landeten am vorletzten Wochenende der Pfarrer Rainer Eppelmann und der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur von der DDR-Oppositionsbewegung „Demokratischer Aufbruch“. Im Namen ihrer Oppositionsgruppe fragten sie: Weshalb sollte Richard von Weizsäcker nicht Staatsoberhaupt der Bundesrepublik und der

DDR zugleich sein? Ihre Begründung: „Es muß uns gelingen, die politischen Unterschiede der beiden deutschen Staaten möglichst bald anzunähern. Wenn die Bürger beider deutschen Staaten in Verantwortung vor ihrer Geschichte in freier Selbstbestimmung über ihre Zukunft entscheiden, wird es auch bald um die Frage der Einheit des Vaterlandes gehen. Auf dem Weg dorthin könnte ein gemeinsames Staatsoberhaupt der DDR und der Bundesrepublik Deutschland ganz besonders hilfreich sein.“ Der „Demokratische Aufbruch“ hat denn auch als erste Oppositionsgruppe den Kohl'schen Stufenplan öffentlich beklatscht.Man sieht, die deutsche Frage kann nicht mehr gegen die Deutschen entschieden werden, denn ihr Nationalbewußtsein ist wachgerüttelt.

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