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Deutschland in Euphorie

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FURCHE: Die Berliner Mauer fällt, wollen die DDR-Bürger die Wiedervereinigung ?

LUTZ RATHENOW: Man spricht nur wenig darüber in der DDR. Einige Leute denken aber doch daran. Momentan besteht eine große Euphorie. Was sich zur Zeit abspielt, ist aber in erster Linie eine Berlin-Berlin-Vereinigung beziehungsweise Wiederbegegnung. Das ist nicht identisch mit der deutsch-deutschen Frage.

FURCHE: Was wird von dieser Euphorie übrigbleiben?

RATHENOW: Die gegenwärtige Stimmung ist Ergebnis einer ganz logischen psychologischen Entladung. Die Grenzen sind offen und Millionen strömen ungläubig heraus. Die Zahl der Übersiedler ist damit gleichzeitig kleiner geworden. Das zeigt, daß das Reiseproblem kein Ausreiseproblem ist. Aber die SED und Egon Krenz haben einen ersten Pluspunkt eingeheimst.

Ich selbst fürchte aber, daß diese plötzliche Öffnung auf Dauer zu ökonomischen Problemen führen wird, da ab jetzt ein ganz gewaltiger Abfluß von DDR-Mark in den Westen stattfindet, der hier eigentlich eine Inflation provozieren müßte.

Es ist auch zu befürchten, daß Teile der Partei bewußt eine wirtschaftliche Verschlechterung in Kauf nehmen, um in einem halben Jahr Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.

FURCHE: Steht die Opposition zur DDR?

RATHENOW: Der Großteil der Opposition will eine eigene DDR. Man verteidigt die Identitätspartikel dieses Landes gegen gesamtdeutsche Versuchungen eines nichtintellektuellen Teiles der Bevölkerung.

FURCHE: Ist das auch Ihr StandpUTlJct?

RATHENOW: Zum Teil; wobei ich finde, faaß man die nationalen Bindungen, die bei vielen Leuten vorhanden sind, doch mitberücksichtigen muß. Vielleicht sollte man wirklich eine linke Deutschlandpolitik entwerfen mit Ideen einer Konföderation, eines allmählichen Hineinwachsens in einen europäischen Raum.

Die SED betreibt eine Westannäherung mit dem Hintergedanken, ihre eigene Macht abzusichern. Durch selektive Öffnungen in einigen Bereichen will sie Glaubwürdigkeit bei westdeutschen Politikern erkaufen, um das einfließende Westgeld in der DDR mitverwalten zu können. Damit hätte die Opposition dann überhaupt keinen ökonomischen Spielraum mehr.

FURCHE: Das wäre der letzte Rest an DDR-Souveränität?

RATHENOW: Dieser letzte Rest könnte aber noch ausgebaut werden durch selbstbewußtere Politiker, die ihre einzige Chance, aufgewertet zu werden, nutzen - nämlich über den Westen, über das Westfernsehen. DDR-Politiker werden in Talkshows auftreten, werden sich locker präsentieren, es werden weitere Köpfe geopfert. Wenn es etwas brächte, würde man sogar Leute der alten Garde auspeitschen lassen. Aber man ist kaum bereit, über Strukturveränderungen nachzudenken: Zum Beispiel über die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit und die Umglie-derung der notwendigen Funktionen dieses Ministeriums an die anderen in der DDR bestehenden Ministerien wie das für Inneres und Verteidigung. Noch findet keine Vergangenheitsaufarbeitung statt. Sie ist öffentlich - via Medien -noch nicht möglich.

FURCHE: Ist die SED glaubwürdig?

RATHENOW: Das war sie in den letzten Monaten immer weniger. Momentan ist sie auf einem Tiefpunkt angelangt. Und der sehr unbeliebte Egon Krenz hatte nur eine Chance: Er konnte nur mehr beliebter werden. Beliebt ist er aber nicht geworden. Immerhin hat er einige Kritiker überrascht, die höchstens kosmetische Veränderungen erwartet hatten. Was jetzt passiert, ist schon erheblich mehr.

FURCHE: Ist ein Reformstop zu befürchten?

RATHENOW: Vielleicht haben Teile der Partei die taktische Aufgabe, als Bremser zu fungieren. Ich persönlich rechne aber mit einem weiteren, größeren Coup. Und zwar mit einer Deutschlandoffensive der SED und der Blockparteien. Es ist möglich, daß von dieser Seite der Vorschlag einer deutsch-deutschen Konföderation unter alliierter Aufsicht kommt, wenn das Modell nur so entwickelt ist, daß die SED ihre Macht behalten kann.

FURCHE: Wird es in Kürze freie Wahlen geben?

RATHENOW: Das ist in Kürze gar nicht möglich. Wir haben hier keine politischen Parteien, die Erfahrung mit jahrelanger Parteiarbeit haben. Außerdem ist das Meinungsspektrum der Bevölkerung der DDR durch die real vorhandenen Gruppen und Parteibildungen nicht repräsentiert. Das „Neue Forum“ ist eine Plattform, keine Partei; profiliert haben sich in relativ kurzer Zeit nur die Sozialdemokraten. Der Opposition fehlt außerdem der Wille zur Macht.

FURCHE: Welchen Staat wünschen sich nun die DDR-Bürger?

RATHENOW: Viele wollen einen Staat, der die besten Momente des Westens mit einigen sozialen Absicherungen der DDR kombiniert. Oppositionelle, aber auch Teile der Partei glauben an ein völlig neues soziales Experiment. Es gibt sogar so etwas wie einen revolutionären Enthusiasmus. Manche hoffen, daß ab jetzt in der DDR gelingen wird, was bisher in allen Ländern des realen Sozialismus gescheitert ist.

Mit dem im Ostteil Berlins lebenden Literaten Lutz Rathenow sprach Franz Gansrigier.

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