6852877-1977_02_09.jpg
Digital In Arbeit

Evangelische Kirche blutet aus

Werbung
Werbung
Werbung

In jüngster Zeit hat sich die evangelische Kirchenleitung in der DDR wieder des öfteren besorgt über die Benachteiligung christlicher Kinder im Bildungsbereich der DDR geäußert. Sogar Funktionäre der Ost-CDU sind der Auffassung, daß in der christlichen Bevölkerung „tiefe Unruhe“ über „Schwierigkeiten und Belastungen“ bestehe, die aus den Konflikten zwischen Staat und Kirche erwachsen.

Mit dem Problem der Diskriminierung junger Christen in der Praxis des Bildungswesens befaßten sich auch einige Pfarrer im Bezirk Neubrandenburg. Die Zuverlässigkeit christlicher Jugendlicher werde, wie die Kirchenvertreter feststellten, für einen späteren verantwortlichen gesellschaftlichen Einsatz ganz offiziell und ausdrücklich in Frage gestellt. Trotz bester schulischer und gesellschaftlicher Leistungen werde ihnen der Zugang zur gewünschten beruflichen Weiterbüdung verwehrt, besonders dann, wenn keine Mitgliedschaft zur FDJ bestehe oder wenn die Teilnahme an der Jugendweihe nicht nachgewiesen werden könne.

In einer Erklärung stellten die Pfarrer fest: „Die Christen in der DDR leben in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung atheistischer Prägung, in der viele Glieder christlicher Gemeinden oft in Entscheidungssituationen stehen, die sie bedrängen und belasten. Besonders junge Christen in der DDR belastet es, in dieser Gesellschaftsordnung zu leben.“

Als Folge des staatlichen Druckes gegen Religion und Kirche, ließen in den letzten Jahren immer mehr christliche Eltern in der DDR ihre Kinder nicht mehr taufen und konfirmieren, um ihnen für die Zukunft Repressalien des SED-Staates zu ersparen. So haben nach Angaben des ZK-Organs der SED, „Einheit“, 96 Prozent aller Vierzehnjährigen in der DDR an der staatlichen Jugendweihe teilgenommen. Nach der Gründung des Zentralen Ausschusses für Jugendweihe im November 1954 beteiligte sich nur jeder fünfte Schüler der jeweiligen achten Klassen an der Jugendweihe. Insgesamt haben seit Bestehen der DDR mehr als fünf Millionen Mädchen und Burschen auf einer Jugendweihefeier ihr Gelöbnis für dėnSčžMisfhus ätD e!- legt. Das Ziel der SED besteht auch heute noch unverändert darin, jeden Jugendlichen des entsprechenden Alters für die staatliche Jugendweihe zu gewinnen.

Trotz dieser Tatsachen gibt es in der DDR aber auch „Kirchenvertreter“, die das Anti-Kirchen-Programm der SED leidenschaftlich unterstützen. So hat in der Ost-CDU-nahen Zeitschrift „Standpunkt“ der Weimarer Oberkirchenrat Erich Stegmann ein verstärktes politisches Engagement der Pfarrer in der DDR gefordert. Es sei heute unerläßlich, so erklärt er, auch über Fragen des gesellschaftlichen Engagements mit den Pfarrern zu reden.

Die gesellschaftliche Neuordnung in der DDR, betonte Stegmann, könne von der Kirche nicht übersehen werden. Die Kirche müsse die Realitäten nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch Folgerungen aus ihnen ziehen. Es bestehe Grund zu der Annahme, daß sich diese Erkenntnis , je länger je mehr“ Bahn breche. Das „Verharren im Abseits“ sei schon heute nicht mehr aktuell. Die Kirche sei in eine „Phase der Wanderung“ eingetreten. Dieser Weg führe zu konstruktiver Mitarbeit und zu „wachsendem Verständnis für die Ziele des Sozialismus.“

Viele Pfarrer in der DDR lehnen es indessen ab, sich politisch zu engagieren. In diesem Zusammenhang sehen sich seit einigen Monaten die Kirchenleitungen in der DDR mit einem möglicherweise erheblichen personellen Problem der kirchlichen Arbeit und Seelsorge konfrontiert: Immer mehr Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter zählen zur wachsenden Zahl der DDR-Bürger, die unter Berufung auf die KSZE-Ergebnisse von Helsinki die Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland beantragen. Im Gegensatz zu anderen arbeitsfähigen Bürgern des SED-Staates wird den kirchlichen Amtsträgern die „Ausbürgerung“ aus der DDR in der Regel gestattet, da sie für den Produktionsprozeß der Wirtschaft aus der Sicht der SED keine Bedeutung haben. Schon heute beklagt die evangelische Kirche der DDR 96 unbesetzte Pfarrstellen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung