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Ulbricht-Jugend an die Front

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Zur Zeit finden innerhalb der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) die Wahlen zu den sogenannten Grundorganisationen statt. Bereits seit dem 15. Februar wählen die Genossen, und das Ende der Wahlen ist erst für den 30. April vorgesehen. Walter Ulbricht will die Wahlen gründlich durchführen lassen. Ideologisch „halbseidene" Genossen haben keine Chancen, und wer politisch nicht hart genug ist, hat keine Aussicht, an die Spitze einer Grundorganisation zu kommen. Zwar werden heuer die „Parteidokumente" nicht umgetauscht, aber die Parteifunktionäre werden genau unter die Lupe genommen.

Eine besondere Rolle bei den Neuwahlen nahm Ost-Berlin ein. Man wartete dort gar nicht die Prozedur der Wahlen in den Grundorganisationen ab, sondern krempelte von oben herunter gleich die Bezirksleitung um. Die Umgruppierung hatte in Ost-Berlin ausschließlich politischen Hintergrund. Man schob einen Mann nach vorn, der zu den einflußreichsten Persönlichkeiten der SED gehört und der zudem für die Ost-Berliner Spitzenstellung im jetzigen Zeitpunkt prädestiniert ist. Es handelt sich um Paul Verner. Damit hat Walter Ulbricht den härtesten Nachwuchsmann in den kalt bis mäßig warmen Berlinkrieg geschickt. Der etwas rundlich-gemütliche Hans Kiefert (Jahrgang 1905), der bislang die Führung der Ost-Berliner Bezirksleitung inne hatte, wurde von dem aalglatten Apparatschik Verner, dem Westspezialisten der SED, ersetzt. Kiefert bekam als Trostpreis den zweiten Platz und gleichzeitig den Schwarzen Peter für die verlorene Wahl in West- Berlin zugeschoben. (Die SED erhielt bei den Wahlen am 7. Dezember 1958 1,9 Prozent der Stimmen.)

Auch ein Walter Ulbricht dürfte jedoch wissen, daß durch freie Wahlen die SED nicht an die Macht kommen kann. Und gerade diese Erkenntnis dürfte ihn veranlaßt haben, Paul Verner in die Feuerlinie zu schicken. Verner gehört zu den Leuten in der SED, die Chruschtschow durch sein Berlinultimatum gerufen hat, und die loszuwerden, dem Kremldiktator schwerfallen könnte. Die Haltung der Clique um Ulbricht, zu der Verner gehört, ist bezüglich West-Berlins eindeutiger als die Chruschtschows. West-Berlin ist für Ulbricht ein Pfahl im Fleische des bolschewistischen Systems der DDR. „Berlin ist die Hauptstadt des wahren Deutschland“, so tönt es aus dem Zentralorgan der SED fast jeden Tag. Und das „wahre Deutschland“ ist für Ulbricht sein Zonenstaat. Dieses „West-Berliner Agentennest" auszutilgen, ist das erklärte Ziel der SED. Paul Verner ist für diese Aufgabe wohlpräpariert.

Zweifellos ist Chruschtschow nicht in erstei Linie derjenige, der in Berlin die Dinge zum Aeußersten treibt, sondern Ulbrichts Mannen sind es, die einen Sieg erringen wollen. Ob Chruschtschow, dem wahrscheinlich die Gefährlichkeit seines Berlinspieles klar ist, aus dem Teufelskreis gut herauskommt, in den er sich hineinmanövriert hat, ist die andere Frage. Die Radikalinskis um Ulbricht versuchen auf jeden Fall alles, um West-Berlin in irgendeiner Form zu okkupieren.

Zur Verfolgung dieses Zieles konnte sich

Ulbricht keinen besseren Helfershelfer auswählen als Paul Verner. Dieser Mann, der sich bislang etwas im Hintergrund hielt, allerdings an führender Stelle, dürfte neben oder mit Ulbricht zu den entscheidenden Leuten der SED gehören. Seine politische Vergangenheit ist im Sinne der SED einwandfrei, und ein Abweichen von der Linie, auch in den kompliziertesten Situationen, gab es bei ihm nicht. Ebenso wie Erich Honecker, der zweite Nachwuchsmann der SED, arbeitete sich Verner, der am 24. April 1911 geboren wurde, über die „Freie Deutsche Jugend“ hoch. Seine politische Laufbahn begann er allerdings nicht erst nach 1945; bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik trat er dem „Kommunistischen Jugendverband" bei und wurde 1933 Mitglied der KPD. Nach dem Verbot der Partei arbeitete Verner zunächst in der Illegalität. Die Erfahrungen, die er dort sammelte, kommen ihm heute als Leiter der „Westabteilung“ der SED zugute. 1936 ging er als Jungkommunist nach Spanien, um am Bürgerkrieg mitzukämpfen. 1936 setzte er sich über Frankreich, die Schweiz und die skandinavischen Länder in die Sowjetunion ab. Dort besuchte er eine Politschule.

Diese geradlinige politische Laufbahn vermittelte ihm große Vorteile. Verner kommt weder aus der Sozialdemokratie und kann deswegen auch nicht an „Sozialdemokratismus“ leiden, noch kommt er aus einer bürgerlichen Richtung (allerdings ist er Sohn bürgerlicher Eltern). Er gehört auch nicht zu den politisch suspekten „Westemigranten“. Bereits während seiner Emigration in der Sowjetunion kletterte er die Funktionärsleiter hinauf. Er arbeitete einen Plan zur LImerziehung der deutschen Jugend nach dem Zusammenbruch aus.

Im Sommer 1945 kam Verner aus Moskau nach Ost-Berlin. Mit Erich Honecker zusammen gründete er die FDJ. Er gehörte dem vorbereitenden Organisationskomitee an. Allerdings konnte er sich in der FDJ gegen Erich Honecker nicht durchsetzen. Ulbricht schlichtete seinerzeit, es war 1946, den Streit dergestalt, daß Honecker die Leitung der FDJ erhielt und Paul Verner das Jugendsekretariat der KPD und nach' der Verschmelzung SPD/KPD (Ostern 1946) das Jugendsekretariat der SED übernahm. Durch die Entscheidung Ulbrichts saß Paul Verner am längeren Hebel und hatte zudem den Vorteil, im Hintergrund wirken zu können. Er gehörte nicht wie Honeeker dem Präsidium des sogenannten Vereinigungsparteitages vom 21. und 22. April W jed . dp . der. Progiammkommis-:

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Hintergrundrolle weiter, was' jedoch nicht besagt, daß er von der Führung ausgeschaltet gewesen wäre. Verner wurde sowohl auf dem I. FDJ-Parlament im Frühjahr 1946 als auch auf dem II. Parlament der FDJ im Frühjahr 1947 in den sogenannten Zentralrat und in das Sekretariat gewählt. Am 22. Mai 1950 wurde er zudem Ehrenmitglied der FDJ.

Bereits 1949 hatte Verner die Kinderschuhe ausgezogen. Er schied aus der Jugendarbeit aus, . da die Jugendkommission der SED aufgelöst wurde. Dafür übernahm er die Organisationsund Instrukteurabteilung beim Zentralkomitee der SED. Ein Aufgabenbereich, das ihm weit besser lag als die Jugendarbeit. Verner ist nämlich kein „Berufsjugendlicher“, sondern „Berufsrevolutionär“. Der Führungskader der SED und die Entwicklung in Westdeutschland, das sind seit 1949 seine Spezialgebiete. In der Parteiorganisation mimte er den Einpeitscher; in der

Westarbeit entwickelte er sich zu einem gründlichen Analytiker.

In den diversen Säuberungen, die in der SED durchgeführt wurden, spielte Paul Verner keine geringe Rolle. In scharfgeschliffener Sprache (Verner gibt als Beruf gerne Journalist an) maßregelte er in den verschiedenen Parteipublikationen die Funktionäre der unteren Einheiten.

Anfang 1950 wurde Verner Sekretär von Walter Ulbricht und im Juli 1950 wurde er auf dem III. Parteitag der SED in das Zentralkomitee der Partei gewählt und in das Sekretariat aufgenommen. Etwa 1951 wurde er in die Westarbeit eingeschaltet. Verner wurde zum Leiter der „gesamtdeutschen Abteilung“ unter Erich Glückauf bestellt. Zu jener Zeit war Franz Dahlem noch Kadersekretär der SED. Seit dieser Zeit widmete sich Verner in überwiegendem Maße der kommunistischen Arbeit in der Bundesrepublik. In die große Säuberung innerhalb der SED im Jahre 1953 wurde er nicht verwickelt. Im Gegenteil, nach dem Sturz Dahlems rückte er weiter auf.

Ab 1953 unterstellte sich Walter Ulbricht die „Abteilung gesamtdeutsche Fragen" direkt, und Verner wurde der Leiter dieser Abteilung. Außer Ulbricht hatte er keinen Chef mehr über sich.

Er beschäftigte sich nunmehr mit dem Auf- und Ausbau der illegalen KP-Organisation, mit den Problemen deT Infiltration und mit Studien über Westdeutschland. Paul Verner war es, der im Aufträge des ZK der SED die Entwicklung in der Bundesrepublik beobachtete und noch beobachtet. Fast alle Aufsätze, die in der theoretischen Zeitschrift der SED, „Einheit“, über Westdeutschland erscheinen, stammen aus der Feder Verners. Er hat sich inzwischen als anerkannter Westspezialist im ZK der SED einen Namen gemacht. In der Tat dürfte Verner zu den wenigen SED-Funktionären gehören, die eine richtige Vorstellung von der Situation in der Bundesrepublik haben, da in seiner Abteilung vielfältige Fäden nach dem Westen laufen und Verner im Gegensatz zur sonstigen Führungspromi nenz nicht ängstlich darauf bedacht zu sein braucht, keine Westkontakte zu pflegen.

Eine Schlappe erlitt Paul Verner auf dem IV. Parteitag der SED im April 1954. Er wurde nicht mehr in das Sekretariat des ZK gewählt, blieb aber Mitglied des ZK. In der Zwischenzeit scheint er jedoch das Vertrauen Ulbrichts wieder voll zu besitzen (wenn er es je verloren haben sollte). Seit 1956 mischt er in allen wichtigen Fragen entscheidend mit. 1955 wurde er zudem mit dem „Vaterländischen Verdienstorden in Silber“ dekoriert. An den Säuberungen vor dem V. Parteitag, in die Wolfgang Harich, Fritz Selbmann, Fred Oelßner, Karl Schirdewan und Ernst Wollweber verwickelt waren, beteiligte sich Verner maßgeblich. Auf dem V. Parteitag blieb es ihm Vorbehalten, in aller Oeffentlich- kelt Fritz Selbmann „in der Luft zu zerreißen". In einer selbst für SED-Gepflogenheiten unerhörten Schärfe griff er Selbmann vor dem vollzähligen Auditorium des Parteitages an. Die Belohnung seitens Ulbrichts ließ auch nicht auf sich warten: Paul Verner wurde auf diesem Parteitag im Juli 1958 in das Sekretariat des Zentralkomitees als Vollmitglied aufgenommen und als Kandidat in das Politbüro gewählt. Gleichzeitig trat ’er in das Redaktionskollegium der „Einheit“ ein, während Fritz Selbmann ausgebootet wurde.

Die vorläufige letzte Etappe im Aufstieg innerhalb der SED-Hierarchie erreichte Paul Verner mit seiner Wahl zum Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Ost-Berlin. Unter seiner Führung dürfte sich der Druck der SED auf West-Berlin verstärken. Verner wird die SED- Genossen in West- und Ost-Berlin in einer bisher nicht gekannten Weise zur Aktivität an- halten und, wenn es sein muß, zwingen, getreu den Richtlinien des ZK. die besagen, daß die Beschlüsse des V. Parteitages in Berlin exakt durchzuführen sind. Walter Ulbricht sprach auf dem Parteitag von einer „Normalisierung der Situation in Berlin“. Was die SED unter „Normalisierung“ versteht, dürfte klar sein.

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