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Tadel verpflichtet

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„Wenn keiner mehr davongejagt werden kann, weil keiner mehr da ist, hat die Idee gesiegt.“

Gerhard Z w e r e n z, Galgenlieder von heute.

Es gehört anscheinend zu den Eigenheiten totalitärer Herrschaftsformen, daß von Zeit zu Zeit bombastische politische Schauspiele vorgeführt werden. Was die SED in der Zeit vom 10. bis 16. Juli in Ost-Berlin an propagandistischer Schaumschlägerei aufbot, kann sich durchaus mit ehemaligen Reichsparteitagen messen. In seiner fast sechsstündigen Marathonrede zur Eröffnung des V. Parteitages der SED, die, gedruckt, eine Bleiwüste von 13 Seiten im

„Neuen Deutschland“ abgibt, malte Walter Ulbricht die Zukunft des „sozialistischen Lagers“ in schönstem Rosa.

Allen Voraussagen westlicher „Kremlastrologen“, die nach dem 20. Parteitag ein Zurück zu Stalin als unmöglich bezeichneten, zum Trotz, scheint das SED-Parteischiff endgültig im stalinistischen Fahrwasser angelangt zu sein. Neben Chruschtschow war schließlich auch Janos Kadar nach Ost-Berlin geeilt. Er hat (wenn auch nur mittelbar) dem Pankower Regime die Möglichkeit gegeben, genau am fünften Jahrestag des Volksaufstandes in Mitteldeutschland, das Bluturteil gegen Imre Nagy zu veröffentlichen. Wie gelegen Ulbricht diese an Stalins Praxis erinnernde Hinrichtungen kamen, beweist die Tatsache, daß sämtliche Rotationsmaschinen der Zonenpresse angehalten wurden, um die Nachricht genau am 17. Juni zu veröffentlichen.

Eine politische Auseinandersetzung gab es auf dem V. Parteitag der SED nicht. Die Zeit, in der die Dialektik noch für die kommunistischen Parteien galt: These — Antithese — Synthese, ist vorbei. Seit jener Zeit vorbei, als Stalin begann, die Vertreter der Antithese, als „Fraktionsmacher“ abgestempelt, mundtot zu machen. Das revolutionäre Vorwärtsschreiten zur Synthese wird in einer „Partei neuen Typs“, wie sich die SED nennt, abgewürgt. Die Bildung von „Plattformen“ zur Diskussion über die von Walter Ulbricht konzipierte Linie ist ein gefährliches Linterfangen.

Das mußte auch Fritz Selbmann, der ehemalige Minister für Schwerindustrie und stellvertretender Ministerpräsident erkennen, der sich bislang beharrlich weigerte, Selbstkritik zu üben und dies auf dem Parteitag vor versammelter Mannschaft ausgiebig nachholte. Genau wie zu Stalins Zeiten überbietet sich die SED-Prominenz gegenseitig, dem Genossen Walter Ulbricht restlose Ergebenheit zu bezeugen. Ulbricht wurde zum Götzen, und jedermann in der SED beeilt sich, diesen Götzen anzubeten. Der widerliche Personenkult um Stalin wird nun auch um Ulbricht betrieben. Alexander Abusch, der Kulturideologe der SED, wand bereits den ersten Lorbeerkranz in einem Artikel in der „Einheit“: „Unsere Partei liebt den Genossen Walter Ulbricht; sie hat Vertrauen zu seiner Kraft und Autorität, mit der er im Kollektiv unserer Parteiführung vorangeht, um die Arbeiter, die Bauern und die Intelligenz, alle Werktätigen mit Bereitschaft und Begeisterung für die konkrete Verwirklichung unserer großen Sache des Sozialismus zu erfüllen.“

Walter Ulbricht, dessen Stellung nach diesem Parteitag stärker als je ist, wird ohne Zögern darangehen, den Genossen den Kopf geradezurücken. Dabei wird er sich nicht scheuen, Ballast abzuwerfen und wenn es sein muß, die SED von einer 1,3 Millionen Mitglieder umfassenden Massenpartei zur Kaderpartei zu dezimieren.

Ulbrichts Bestreben ist es, den innerparteilichen Konflikt mit Stumpf und Stiel auszurotten. Die latente Krise der SED soll beendet werden. Der Anfang wurde im Februar dieses Jahres mit dem Hinauswurf Karl Schirdewans und Ernst Wollwebers aus dem Zentralkomitee gemacht. Am letzten Tage des V. Parteitages grassierte ebenfalls die Ausschlußepidemie. In das neue Zentralkomitee wurden nicht mehr gewählt: Fred Oelßner, Fritz Selbmann, Paul Wandel und eine ganze Reihe weniger bekannte Funktionäre. Das -ZK, dessen Vollmitgliederzahl von 91 auf 111 erhöht wurde, setzt sich jetzt aus treuen Anhängern Ulbrichts zusammen. Rund ein Drittel der ehemaligen Mitglieder wurden „ausgewechselt“.

Die Auswirkungen des V. Parteitages auf Mitteldeutschland sind heute noch nicht abzusehen. Wenn es Walter Ulbricht gelingt, die Pläne zu verwirklichen, die er in seinem Referat dargelegt hat, wird die Zonenrepublik über kurz oder lang zu einem bolschewistischen Staat umgebaut. Nachdem die Führungsgruppe ihre Unsicherheit überwunden hat, fühlt sie sich anscheinend stark genug, ihre Konzeption rücksichtslos durchzusetzen. Das Tauwetter ist, wenn Ulbricht seine Worte ernst gemeint hat, woran nicht zu zweifeln ist, in der DDR beendet. Nach den Ausführungen Walter Ulbrichts wird in der SBZ zunächst ein unerbittlicher Kampf gegen den sogenannten Revisionismus geführt werden. Mit anderen Worten, alle Gegner Ulbrichts werden die harte Faust des Regimes zu spüren bekommen. Hermann Matern formulierte das unmißverständlich: „Alles Geschwätz vom .humanen Sozialismus', vom .weichen Kurs', vom .Nationalkommunismus' und von .Demokratie für alle' ist nichts anderes als der Versuch der Zersetzung und Aufweichung unserer Reihen.“ Verbunden mit diesem unerbittlichen Kampf gegen die Vertreter eines gemäßigten Kurses, soll — mach U&whts/ Worten — eine Umgestaltung des Rechts in der Zone erfolgen. „Die noch angewendeten umfangreichen Teile des Bürgerlichen Gesetzbuches aus dem Jahre 1900 können die neuen persönlichen Beziehungen und Vermögensverhältnisse ... nicht mehr erfüllen. Ein neues materielles Recht verlangt auch neue, den sozialistischen Beziehungen der Menschen und der Funktion des sozialistischen Gerichts entsprechende Verfahrensgesetze im Zivilprozeß.“ Deswegen müsse eine „einheitliche, umfassende Gestaltung des sozialistischen Rechts“ angestrebt werden. Wohin diese Entwicklung führen wird, dürfte klar sein: Recht soll sein, was dem SED-Staat nützt.

Ein weiteres Ziel, das sich Ulbricht gesteckt hat, ist die Verbreitung des dialektischen Materalismus. „Er ist eine Weltanschauung, die sich streng an die Tatsachen hält und die Welt so widerspiegelt, wie sie ist — als Welt der Materie, die unerschaffbar und unzerstörbar ist, sich in Raum und Zeit bewegt und zu ihrer Entwicklung keines Schöpfergottes bedarf.“ Der nun anscheinend auch zum Staatsphilosophen avancierte Ulbricht schließt dann messerscharf: „Es kann keine Uebereinstimmung zwischen religiösem Glauben und Naturwissenschaft geben, denn die Wissenschaft deckt die objektiven Gesetzmäßigkeiten der Natur auf, während die Religion, wie Bischof Lilje vor kurzem erklärte, feststellt, ,Gott sei allgegenwärtig und entziehe sich dem Erfassen durch die menschliche Vernunft'. Wenn aber die Wissenschaft anerkennt, daß es Dinge gebe, die nicht durch die menschliche Vernunft erfaßt werden könnten, dann gäbe es heute keine Atomtechnik, keine Chemie, keinen Maschinenbau, kurz keinerlei wissenschaftlich-technische Entwicklung.“ Aus dieser nicht gerade originellen Auffassung eines Walter Ulbricht erklärt sich auch die Abgeschmacktheit seiner zehn Gebote,

Nachdem die sogenannte Jugendwsihe in diesem Jahr von der SED stark gefördert (etwa die Hälfte der schulentlassenen Kinder gingen zur Jugendweihe!) und inzwischen in der Zone die erste „sozialistische Ehe“ geschlossen wurde, dürften die Ausführungen Ulbrichts auf dem Parteitag der Auftakt zum offiziellen Kirchenkampf gewesen sein: „Es ist nicht normal, daß es immer noch Orte gibt, wo die Kirche eine beharrliche, systematische Arbeit unter den Kindern leistet...“

Die von der SED konzipierte Politik, soweit sie sich aus den Reden auf dem V. Parteitag abzeichnet, scheint in ein neues Stadium getreten zu sein. Es ist schwierig, ohne zeitlichen Abstand Grundtendenzen festzustellen. Doch drängt sich die Vermutung auf, daß dieser Parteitag eine gravierende Wendung der SED-Politik gebracht hat. Während von 1945 . bis heute die Bestrebungen der Zonenmachthaber hinausliefen, in Mitteldeutschland auf gewissen Gebieten vollendete Tatsachen zu schaffen, die bei einer Wiedervereinigung mitübernommen werden müssen, zeigt sich nunmehr, daß es Ulbricht — und wahrscheinlich auch Chruschtschow — mit der Theorie von den zwei deutschen Staaten bitter ernst ist. Dabei erscheint der groß angekündigte Konkurrenzkampf auf wirtschaftlichem Gebiete als unwesentlich, zumal der Ostblock bis heute noch nicht die Möglichkeit hatte, den Beweis anzutreten, ob er auch in Zeiten einer Ueberpro-duktion von Konsumgütern Wirtschaftskrisen ausschalten kann.

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