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Ulbricht mustert

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In schöner Regelmäßigkeit findet alle vier bis sechs Jahre in der DDR der Umtausch der Mitgliedsbücher und Kandidatenkarten statt, beschlossen vom Zentralkomitee der SED (Sozialistische Einheitspartei), um auf diesem Wege unliebsame Mitglieder dafür zu strafen, daß sie wider den Stachel zu locken gewagt hatten; die Ausfolgung ihrer Karten verzögert sich oder entfällt überhaupt. Und somit konnte der Erste Parteisekretär, Walter Ulbricht, mit Recht in einem Interview von einem „ganz normalen Vorgang im innerparteilichen Leben“ sprechen. Tatsächlich gibt es zur Zeit keine erkennbare Opposition in den kommunistischen Parteireihen, seit Professor Robert Havemann, der Dichter Wolf Biermann und einige ihrer Gesinnungsgenossen ausgeschlossen wurden, und seit sich daraufhin die mehrfach gemaßregelten Schriftsteller still verhielten. Aber eine Partei von 1,9 Millionen Mitgliedern — was soviel bedeutet wie die Mitgliedschaft jedes fünften Bürgers — hat eine Vielzahl von Problemen, die sich am besten auf kaltem Wege bereinigen läßt, wobei jedes Aufsehen, das ein Parteiausschlußverfahren mit sich brächte, vermieden werden kann. Man darf es sich in einer solchen Massenpartei (erzwungen durch Druck mit Arbeitsplatz und Besoldung und von Opportunismus durchsetzt) ohne weiteres leisten, Tausende, ja Zehntausende draußen zu lassen. Schon die Ankündigung des Umtauschs mochte zahllose SED-Mitglieder, die beargwöhnt wurden, mürbe und wieder „zuverlässig“ gemacht haben. Daher konnte der Diktator in Pankow in seinem Interview auch sagen, der Umtausch sei „ein Ereignis von großer gesellschaftlicher Bedeutung“; das ist es zweifellos, wenn Ulbricht in seinen Reihen Musterung hält. Aber seine Leute, auf die er sich verlassen kann, haben die Zügel des Parteiregimes fest in Händen. Den Apparat beherrschen jene Jahrgänge, denen Ulbricht selbst angehört. Von den 22 nach dem letzten Parteitag gewählten Mitgliedern, Kandidaten und Sekretären des Politbüros sind 14 vor 1916, sechs vor 1909 geboren. Auch die maßgeblichen Männer des Politbüros stehen in Ulbrichts Alter, wie Matern, Norden, Warnke u. a. Unerschüttert ist auch die Herrschaft der Altkommunisten in den Bezirken, in denen die Position der ersten Sekretäre zu zwei Dritteln von bewährten Funktionären seit zehn bis zwanzig Jahren gehalten werden. Erst bei den ihnen unterstellten zweiten Sekretären und sonstigen Apparatschiks hat die „Jugend“ Einzug gehalten, allerdings in der Mehrzahl auch eine, die älter als 35 Jahre, ist. Was die Struktur der Mitgliedschaft anbelangt, kann man aus Beispielen schließen, wieweit die offiziellen Ziffern Glaubwürdigkeit verdienen, wenn beispielsweise ein alter Propagandaleiter wie Professor Albert Norden als Arbeiter geführt wird und in seiner Berufsrubrik die Eintragung „Schreiner“ hat. Trotzdem ist interessant zu wissen, daß auch die offiziellen Zahlen ein Auf und Ab des Anteils an Arbeitern sowie an Intellektuellen zeigen: 1947 betrug danach der Anteil der Arbeiter noch 48,1 Prozent, 1961 nur noch 33,8 Prozent, 1966 wieder 45,6 Prozent (nach Stichproben wurde vor vier Jahren zum ersten Mal durchgreifend manipuliert). Der 22prozentige Anteil der Intellektuellen, samt Angestellten, im Jahr 1947 stieg bis 1961 auf 41,3 Prozent an, um dann — die Schriftsteller und Technokraten hatten zwischendurch rebelliert — abermals auf 28,4 Prozent zurückzugehen. Eine untergeordnete Rolle spielte in der Partei seit eh und je die Bauernschaft — obwohl sie im Titel des „Ersten Arbeiterund Bauernstaates“ genannt wird — und ihr Anteil bröckelt immer mehr ab, was auch die Parteistatistik nicht verhehlt.

Inwiefern der neue Parteibuchumtausch ein „großes gesellschaftliches Ereignis“ gewesen sein wird, dürfte erst geraume Zeit nach der Aktion klar werden, wenn das Ergebnis durchsickern wird.

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