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Zwischen Brandt und Ulbricht

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Für seine 108.000 Quadratkilometer Land zwischen Oder und Elbe ist Walter Ulbricht zum — vielleicht letzten? — Gefecht angetreten. Es geht dem Achtundsnebzigjährigen darum, seine Demokratische Republik endgültig in der Landkarte Europas ziu verankern. Denn nach der Budapester Parteikonferenz (Ulbricht ließ sich krankheitshalber entschuldigen) und nach einer Rede des sowjetischen Parteichefs Breschnjew in Armenien läuten die Alarmanlagen in Pankow: Sind die braven Freunde der SED in Moskau und Warschau, in Budapest und selbst in Prag daran, ein Arrangement mit Westdeutschland zu treffen, in dem für die DDR kein Platz ist?

Der Vertrag von Moskau und nunmehr auch der Vertrag mit Warschau, der eigentlich die Ostgrenze der DDR ohne Beisein der DDR zur anerkannten Grenze macht, versteht sich in den Augen des greisen SED-Polit-funktionärs Ulbricht als krasses Umgehungsgeschäft Moskaus Botschafter in Ost-Berlin, Abrassdmow, ist nach erfolglosen Einredeversuchen gegenüber der DDR-Spitze nach Moskau zurückgereist. In Budapest tauchte nur ein Funktionär der zweiten Garnitur auf, um den ungarischen Genossen zu gratulieren. Und überall im Ostblock versichern nun Dipflomaten und Politiker, daß es den Warschauer-Pakt-Mächten nunmehr darum gehen müsse, den Widerstand der Ostberliner Genossen zu brechen. Denn zum erstenmal in der Staatsgeschichte der DDR stellt sich die ostdeutsche Führung offen gegen Moskau, verlangt Garantien und bremst die Mesalliance mit Bonn. Vor allem aber geht es ihr darum, das Faustpfand Berlin in der Hand zu behalten und durch Repressalien klarzustellen, wer der Herr zwischen Helmstedt und Marienborn ist. Ostdeutsche Funktionäre sagen vor allem in Moskau ganz offen, daß sie sich überrumpelt fühlen. Ulbricht muß jetzt fürchten, daß man sich jedoch nicht nur hinter seinem Rücken arrangiert, er fürchtet offensichtlich auch Fernwirkungen auf die eigene Bevölkerung, die mit einiger

Verbitterung den faktischen Abbruch der Gespräche zwischen Brandt und Stoph registriert hat. Die DDR-Führung argumentiert daher in Moskau und anderswo aber auch damit, daß der ,3ozialdemokratiismus“ iBommis ein gefährlicher Bazillus sei, der an Attraktivität gewinnen würde, wenn er von Moskau endgültig salonfähig gemacht würde.

Moskau ist angesichts der Insistenz dar stets folgsamen Freunde einigermaßen bestürzt. Und Breschnjews Ankündigung einer Gipfelkonferenz hört sich wie der ängstliche Versuch an, schlimme Kinder zu beruhigen. Tatsächlich ist die Sowjetführung ratlos: Soll man die Breschnjew-Dok-trin jetzt etwa gegen den aufmuk-kenden Ulbricht anwenden? In der DDR gibt es nichts mehr zu besetzen. Hunderttausend Rotarmisten stehen sowieso schon fest im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat. Und außerdem: Repressalien gegen einen Alliierten, der nicht wie die Ungarn 1956 und die Tschechen 1968 zum Revisionismus abweicht? Bestrafung Ulbrichts, weil er der bisherigen Kremlpolitik loyal und überanhänglich zugetan war? In der Tat: die (nunmehr än Warschau von Brandt erneuerte) Verknüpfung der Berlinfrage mit der Ratifizierung der Abkommen muß Falken und Tauben im Kreml in ein Dilemma stürzen. Und die Frage ist nun endgültig nur noch so zu stellen: Wer ist den Sowjets heute wichtiger? Der Wirtschaftsgigant am Rhein, über dessen Regierung man keine Zeitprognosen stellen kann, oder der brave und fleißige, aber nicht sonderlich potente Satellit an der Spree?

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