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Die Eile ist verdächtig

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Der Besuch des französischen Staatspräsidenten Pompldou In der Sowjetunion nährt weiterhin die Befürchtung vieler westlicher Politiker, daß seit dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages eine Art Wettlauf zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland um die Gunst Moskaus beginnen werde. Wenn auch die offizielle Politik in den USA und in Frankreich den Moskau-Vertrag als einen Fortschritt auf dem Weg zur polltischen Entspannung in Europa gutheißt, so ist doch die Sorge nicht zu überhören, die in der öffentlichen Meinung der westlichen Mächte Immer wieder durchklingt. Was soll aus der europäischen Zusammenarbeit werden, was aus Europas Verteidigungswillen, wenn die Gefahr aus dem Osten als Schimäre hingestellt wird?

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Der Besuch des französischen Staatspräsidenten Pompldou In der Sowjetunion nährt weiterhin die Befürchtung vieler westlicher Politiker, daß seit dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages eine Art Wettlauf zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland um die Gunst Moskaus beginnen werde. Wenn auch die offizielle Politik in den USA und in Frankreich den Moskau-Vertrag als einen Fortschritt auf dem Weg zur polltischen Entspannung in Europa gutheißt, so ist doch die Sorge nicht zu überhören, die in der öffentlichen Meinung der westlichen Mächte Immer wieder durchklingt. Was soll aus der europäischen Zusammenarbeit werden, was aus Europas Verteidigungswillen, wenn die Gefahr aus dem Osten als Schimäre hingestellt wird?

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Wenn heute die freie Welt mit einem gewissen Mißtrauen die westdeutsche Ostpolitik verfolgt, dann hat die Regierung Brandt—Scheel selbst schuld daran. So angenehm es den Weltmächten sein mag, daß die Deutschen selbst auf ihre Wiedervereinigung und auf Grenzberichtigungen verzichten, so bedenklich muß ihnen die Hast der deutschen Regierung erscheinen, die Verträge mit den Volksdemokratien zum Abschluß zu bringen. Nun hat ein großer Teil der deutschen Publizistik eine Euphorie in der Bevölkerung erzeugt, als habe die deutsche Außenpolitik seit dem Moskau-Vertrag ihre Selbständigkeit wiedererobert, als beginne sie eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben und als gelänge es ihr, die gesamte osteuropäische Politik in Fluß zu bringen. Wenn es noch angeht, daß sich Journalisten Illusionen hingeben, so stimmt eine solche Haltung bei Regierumgspolitikem eher beängstigend. Welche Notwendigkeit besteht für die deutsche Bundesregierung, mit einer Eile sondergleichen zu außenpolitischen Vereinbarungen zu gelangen, deren Güte doch nur dann gegeben wäre, wenn sie wohl überlegt, einheitlich interpretiert und Verstandes- wie gefühlsmäßig vom Großteil der deutschen Bevölkerung, aber auch vom verbündeten Westen akzeptiert werden. Die Regierung Brandt—Scheel giert geradezu nach einem außenpolitischen Erfolg. Um dieses augenblicklichen Erfolges wegen setzt sie bis zu einem gewissen Ausmaß die Sicherheit aufs Spiel. Dies aber kann leicht das Mißtrauen der europäischen Völker untereinander schüren und das sowieso nur im Schneckentempo wachsende europäische Zusammengehörigkeitsgefühl wieder ins Anfangsstadium zurückdrängen. Frankreich beispielsweise ist nach Worten Pompidous in Moskau zu Kompromißlösungen in Berlin und zur Einberufung einer Sicherheitskonferenz bereit, die es noch vor kurzem ablehnte.

Gerade Berlin ist ein klassischer Test für die sowjetische Politik. Trotz des Moskauer Vertrages mit der Bundesrepublik rücken die Sowjets vom Standpunkt nicht ab, daß Berlin einen dritten Staat darstelle. Ja, sie drohten zeitweise sogar, den DDR-Behörden die Hoheit über die Zufahrtswege nach Berlin zuzusprechen, wodurch die freie Existenz von Westberlin überhaupt in Frage gestellt würde. Das sowjetische Doppelspiel ist evident. Immer stärker wird das Drängen sowjetischer und mitteldeutscher Diplomaten und Politiker, direkte Gespräche1 mit dem Westberliner Bürgermeister aufzunehmen, um bei den Deutschen selbst mit dem Versprechen auf menschliche Erleichterungen den derzeitigen politischen Status Westberlins m unterhöhlen. Das geistige Leben Berlins wird immer mehr von einer Agitpropwelle überschwemmt und das Verbrechen unter politischem Deckmantel nimmt ständig zu. Noch niemals war West-Berlin so gefährdet wie heute und zwar aus eigenem heraus.

Warum zögert Brandt, den Oppositionsführern Einsicht in die geheimen Verihandluragsprotokolle zum

Moskau-Vertrag zu gewähren, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, um so mehr, als die derzeitige Regierurigskoalition bei den letzten Bundestagswahlen nicht einmal die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte, das Vertragswerk aber für lange Zeit die deutsche Außenpolitik bestimmt. Brandts Zögern muß doch den Verdacht der Opposition geradezu herausfordern. Die geheimen Zusatzprotokolle der deutsch-sowjetischen Verträge haben bisher immer noch Unglück über die Welt gebracht. Beim Rapallo-Vertrag ermöglichten sie der Reichswehr, ihre Flieger- und Panzeroffiziere in der Sowjetunion auszubilden, wodurch der Versaiiller-Vertrag umgangen wurde. Beim deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 sahen die geheimen Zusatzprotokolle die vierte Teilung Polens vor. Sicherlich sind derart weltpolitische Aspekte bei den letzten Verhandlungen in Moskau auch nicht gesprächsweise angedeutet worden, doch die Sorge der Opposition, daß deutsche Interessen allzu freigebig preisgegeben wurden, wird durch Brandts Haltung zweifellos genährt.

Brandt benötigt einen außenpolitischen Erfolg, weil er sich innenpolitisch mit immer größeren Schwierigkeiten konfrontiert sieht. Im November finden in Hessen und Bayern Landtagswahlen statt, die als Testwahlen für die Bundespolitik gewertet werden. Schnelle außenpolitische Erfolge sollen das Ansehen der Regierung Brandt—Scheel verbessern. Allerdings enthält eine derartige Politik viele Gefahren. Selten noch in der Geschichte der neuen Zeit ist es gut gegangen, wenn die Außenpolitik aus innenpolitischen Gründen mach Erfolgen hetzte. Vielmehr braucht das, was Bestand haben soll, seine Zeit.

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