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Die Elbe-Oder-Karwoche

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Am Gründonnerstag dieses Jahres erstattete die letzte der 14 SED-Bezirksleitungen, Chemnitz, Vollzugsmeldung: Landwirtschaft voll kollektiviert. Wieviel Leid in den letzten Wochen über die Menschen in den Dörfern zwischen Elbe und Oder, zwischen Ostsee und Erzgebirge hereingebrochen ist, läßt sich nicht mit Worten umreißen. Die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache versagen. Ermessen, was es für einen Bauern bedeutet, seinen Hof zu verlieren, vermag nur der, der ähnliches erlebte. Tag um Tag, Woche um Woche, pausenlos haben die roten Fanatiker die Bauern in Ostdeutschland in der Agita-tionsmühle festgehalten, auf sie eingeschwatzt, Häuser des Nachts mit Scheinwerfern angestrahlt, aus aufgefahrenen Lautsprecherwagen Schmähungen und Drohungen verkündet, bis der letzte Widerstand psychisch oder physisch gebrochen war. '“ ',

Freude sei nun auf den Dörfern eingekehrt, berichtet die SED, der sozialistische Frühling angebrochen. Wie schwach erscheint das Wort Zynismus, überdenkt man solche Behauptungen Die ersten Monate dieses Jahres sind ohne Beispiel in der fünfzehnjährigen Geschichte des Ulbricht-Regimes. Die nun verproletarisierten

Bauern haben mühsam ihre Höfe hochgewirt-schaftet, unzählige Schweißtropfen sind in den Ackerfurchen versickert, mit primitivem Gerät haben sie dem Boden das Soll abgerungen Heute stehen sie vor dem Nichts. Viele waren Neusiedler, die ihr Land durch die Bodenreform erst erhielten. Damals sagte die SED, jeder Bauer habe Anspruch auf ein Stück eigenen Landes. Sie können nur in ohnmächtiger Wut die Fäuste ballen gegen ein Regime, das sie wegen einer menschenverachtenden Ideologie zu Knechten der Partei gemacht hat. Zu Hunderten flohen sie in den Westen, das Notwendigste in einem Bündel, um nicht durch großes Gepäck die Aufmerksamkeit der . Polizei auf sich zu lenken. Vierzigjährige, fünfzigjährige, sechzigjährige Bauern stehen apathisch in den Notaufnahmelagern und können es noch nicht fassen, daß sie die Erde, mit der ihr Leben verwurzelt war, verloren haben. Ohne Hoffnung schauen sie auf ihre schwieligen Hände. Sie wissen, nur wenige von ihnen werden je wieder hinter einem Pflug herschreiten. Der Boden ist knapp in der Bundesrepublik. Zu viele Bauern sind in den letzten Jahren bereits angesiedelt worden.

Ulbricht kann sich freuen über seinen Anschlag. Er hat jetzt die ostdeutschen Bauern vernichtet. Und darum, nur darum ging es der SED, die freiheitliche Substanz sollte zerbrochen werden. Der Bauer läßt sich von Propagandasprüchen nicht leicht beeinflussen. Er ist auf eigener Scholle ein freier Mann. Will man ihm die geistige Freiheit nehmen, muß man erst seine wirtschaftliche zerstören. Wirtschaftliche Abhängigkeit zieht geistige nach sich. Ein anderes Ziel hatte die SED nicht.

Alle Statistiken beweisen, daß die verstaatlichten Betriebe unrentabel arbeiten. Die freien Bauern hatten in der Mehrzahl ihr Ablieferungssoll erfüllt. Trotz Bevorzugung in der Saatgut-und Düngemittelzuteilung, trotz großer Steuervorteile und aller möglichen Unterstützungen arbeiten die Produktionsgenossenschaften mit roten Zahlen. Diese Misere hatte der einstige Wirtschaftsexperte der SED, Prof. Fred Oelß-n e r, deutlich ausgesprochen, als er empfahl, die Kollektivierung nicht mehr weiter zu treiben und unrentable Genossenschaften aufzulösen. Wegen dieser wirtschaftlichen Einsicht, die mit der Ideologie nicht übereinstimmte, wurde Oelß-ner in die Wüste geschickt. Die gleiche Ansicht vertrat auch der einstige Direktor des Instituts für Agrarökonomie der Akademie der Landwirtschaftswissenschaft, Dr. Kurt V i e w e g, der „einen für die deutschen Bauern gangbaren Weg zum Sozialismus“ vorschlug und statt Genossenschaften die Schaffung von Familienbetrieben forderte. Im Jahre 1957 „entlarvte die Partei die konterrevolutionäre Konzeption Viewegs“. Der V. Parteitag der SED 1958 setzte diesen Ideen ein Ende.

Am 31. März 1958 befanden sich noch 72,3

Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Ostdeutschlands in Privatbesitz. Die Sowjetzone stand neben Polen an zweitletzter Stelle der Kollektivierungsbemühungen unter den Ostblockstaaten. Doch der hohe Anteil privatwirtschaftlicher Bauernbetriebe täuscht über die latenten Kollektivisierungsmaßnahmen seit 1945 hinweg. Das Bauernlegen begann nicht mit dem Jahre 1960, es begann bereits kurz nach der „demokratischen Bodenreform“ 1945, bei der alle Großgrundbesitzer entschädigungslos enteignet wurden. Damals kam ein Teil der Bodenfläche an Neubauern. Bis zum Jahre 1949 ließ die SED der Landwirtschaft eine Ruhepause. Die katastrophale Ernährungslage jener Jahre erlaubte keine sozialistischen Experimente. Ab 1950 begann der Kampf gegen die freien Bauern. Auf die Neusiedler konnte die Partei verhältnismäßig leicht Einfluß nehmen, da sie auf Unterstützung angewiesen waren. Jene mittelständischen Bauern jedoch, die keine Großgrundbesitzer waren, daher nicht unter die Enteignungsgesetzgebung fielen, konnten der SED passiven politischen Widerstand entgegensetzen. Sie hatten aus der Hand des Regimes nichts empfangen, ihren Hof hatten sie schon zu Zeiten bewirtschaftet, wo der Name Ulbricht noch unbekannt in der Politik war. Diese „bourgeoisen Einzelbauern“ zwang die SED in den Jahren zwischen 1950 und 1954 in die Knie. Steuerliche Tiefenprüfungen, sinnlos hochgesetzte Ablieferungsquoten waren die Hauptwaffe der Funktionäre. Bauern, die wegen Mißernte oder Viehseuchen ihr Soll nicht erfüllen konnten, wurden wegen „Wirtschaftsverbrechen“ und „Sabotage“ eingekerkert. Das Gros der freien Bauern floh bereits in jenen Jahren, wenig beachtet, weil es weniger waren als heute, weil sich das Bauernlegen damals über vier Jahre erstreckte.

Unter dem Einfluß von Fred Oelßner und Dr. Vieweg und vor allem wegen der Tauwetterperiode hatte die Zonenlandwirtschaft bis zum Jahre 1958 Ruhe. Die Kollektivierungsbestrebungen stagnierten. Bis zum V. Parteitag. Nachdem sich Walter Ulbricht wieder als Herr der Lage fühlte, wurde die Landwirtschaftspolitik ideologisch ausgerichtet.

Damit war der Startschuß zu einer rücksichtslosen Kollektivierung der Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbilde gegeben. In den letzten Monaten des Jahres 1958 und auch während des Jahres 1959 versuchte die SED, die bereits bestehenden Produktionsgenossenschaften zu erweitern. Angrenzende Einzelbauernwirtschaften wurden zu den LPG geschlagen, um diese rentabel zu machen. Erst Ende Jänner 1960 erfolgte der Großangriff. Die Einzelaktionen der Vergangenheit mündeten in der Totalität. Nicht günstige Prozentsätze wollten die SED-Funktionäre dem „werten Genossen Ulbricht“ melden, sondern die totale Kollektivierung.

Am Karfreitag konnte das Zenrralorgan der SED, Neues Deutschland, jubeln: „Werter Genosse Ulbricht! Mit großer Freude teilen wir Ihnen mit, daß sich auch in unserem Bezirk die Bauern für die sozialistische Produktionsweise in der Landwirtschaft entschieden haben.“ Die SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) hatte als letzter Bezirk das brutalste Bauernlegen der deutschen Geschichte vollzogen.

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