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DDR vor Ausverkauf?

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Die Genossen trafen sich in einer Sporthalle. Schlicht und einfach ohne selbstsichere Arroganz verlief der außerordentliche Parteitag. Gregor Gysi, der neue Chef, Hans Modrow, der neue Ministerpräsident, Klaus Berghofer als Vizepräsident, das sind Hoffnungsträger für die Genossen, Saubermänner, denen man zutraut, die Partei von Korruption und Willkür zu befreien.

Mit einer Mischung von sozialdemokratischen, marktwirtschaftlichen, grünen und pseudo-religiö-sen Elementen, auch mit Träumen eines „neuenWeges zum demokratischen Sozialismus“, will man zum Aufbruch blasen. Der von Verbrechen aller Art besudelte Titel SED soll noch in dieser Woche über Bord gehen. Doch kann man sich mit dem Ablegen von drei Buchstaben einfach aus der Vergangenheit stehlen? Welches Gewicht hat das Schuldbekenntnis einer Partei, die sich erst jetzt, mit dem Rücken zur Wand, an die Brust klopft? '

So fragt sich das Volk, nicht die Opposition. Diese setzt auf Gysi. Denn der 41jährige Anwalt ist kein Opportunist, kein Wendehals. Er vertrat die oppositionelle Gruppe „Neues Forum“, als diese noch als staatsfeindlich galt. Er ebnete Bärbel Bohley und Wolf gang Templin hinter dem Rücken des Stasi-Ministers Erich Mielke den Weg zur Rückkehr aus dem Westexil.

Täglich ereignen sich kleine Demonstrationen, allmählich spürt man links der Oder den Soli-darnosc-Sommer von 1980. Aggressiv wie damals in Polen demonstrieren die Deutschen-Ost. Auf einer Mauer an der Ostberliner Jan-nowitzbrücke steht: „Keine Rast bis das letzte Schwein im Knast“. In einem Flugblatt steht zu lesen: „Wir wollen nicht in die Kohl-Suppe rein - freiwillig schon gar nicht. Und erst recht nicht am 19. Dezember, wenn Modrow seine Kapitulationsurkunde unterzeichnen will.“

Diese Sätze versteht jeder DDR-Bürger, sie spalten das Volk. In die einen, die, und das ist die schweigende Mehrheit, in den „deutschdeutschen Konföderationsplänen“ die letzte Rettung sehen, den wirtschaftlichen Anschluß an Europa erlangen zu können, und in jene, die ihr Land kurz vor dem Ausverkauf sehen.

„Wenn die ganzen Westbürger ab 1. Jänner 'rüber kommen, ohne Zwangsumtausch, ohne Visa, da kaufen die doch unser Land leer“, ein Satz, der immer fällt, in jedem Gespräch. Die Bürger sorgen sich mehr darum, was sein wird, wenn Westfirmen frei investieren können, was sie wollen, die Mietpreise freie Marktgesetze regeln, die Inflation die Preise in die Höhe treibt.

Nicht eine Untergrundschrift oder ein Westsender ist es gewesen, der dem Vorstands Vorsitzenden von Daimler-Benz großen Platz einräumte, sondern das SED-Blatt „Berliner Zeitung“, das erklärte: „Schneller Zufluß von Privatkapital ist gefragt.“Auf dem SED-Parteitag ging kein Delegierter auf diese Ängste ein, die Reformreden waren ehrlich, doch paßten sie nicht zu den Problemen des einzelnen. Aber so überraschend es klingen mag, und darin liegt die eigentliche Gefahr, die neuentstandenen Parteien und Grüppchen setzen alles daran (obwohl die große Masse der Bürger dies nicht wünscht), die SED zu bewahren, denn ohne SED sei auch die DDR gefährdet.

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