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„Sozialistische Moral“

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Der SED-Staat verschärft seinen Justizterror. Die „Volkskammer“ der DDR hat jetzt einstimmig die Entwürfe eines neuen Zivilgesetzbuches und einer Zivilprozeßordnung angenommen. Am 1. Jänner 1976 sollen beide Gesetzeswerke wirksam werden. Damit löst das Zivilgesetzbuch das bisher in beiden deutschen Staaten gültige Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ab.

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Der SED-Staat verschärft seinen Justizterror. Die „Volkskammer“ der DDR hat jetzt einstimmig die Entwürfe eines neuen Zivilgesetzbuches und einer Zivilprozeßordnung angenommen. Am 1. Jänner 1976 sollen beide Gesetzeswerke wirksam werden. Damit löst das Zivilgesetzbuch das bisher in beiden deutschen Staaten gültige Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ab.

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Auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin betonte DDR-Justizminister Heusinger, das neue Zivilgesetzbuch, das Einführungsgesetz dazu und die neue Zivilprozeßordnung seien darauf gerichtet, „die strategische Orientierung der Partei auf dem politisch bedeutsamen Gebiet des Zivilrechtes zu verwirklichen“.

Die Einführung eines DDR-eigenen Zivilgesetzbuches zielt nicht zuletzt darauf ab, die proklamierte Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik durch barbarische Strafdrohungen zu sichern. Jede Art von noch so geringfügiger Opposition, jedes kritische Wort. wird in Zukunft nicht nur mit der Einleitung eines Strafverfahrens, sondern mit sofortiger Verhaftung und andauernder Untersuchungshaft beantwortet. Festgenommene, die sich gegen die „staatliche Souveränität“ vergangen haben, werden nicht mehr dem Haftrichter zwecks Entscheides über die Untersuchungshaft vorgeführt, sondern bleiben „automatisch“ in Polizeihaft, bis zum Prozeß.

Mit dieser neuen sozialistischen Gesetzesgrundlage will das SED-Regime seine innenpolitische Funktion festigen und jede Opposition im Keime ersticken. SED-Juristen nennen das „Festigung der DDR-Rechtssicherheit durch sowjetische Erfahrungen“. Und es ist in der Tat so: Auf der Grundlage sowjetischer Erfahrungen entstand das neue DDR-eigene Zivilgesetzbuch, wird die „Rechtssicherheit in der DDR systematisch und allseitig weiter gefestigt“. Wie der Vizepräsident des Obersten Gerichts der DDR, Dr. Werner Strassberg, in einem Interview betonte, seien die Justizorgane der DDR mit Hilfe des „Bruderlandes“ aufgebaut und entwickelt worden. Als Beispiel nannte der SED-Jurist den zunehmenden erzieherischen Wert der gerichtlichen Verhandlungen und Entscheidungen durch die Mitwirkung gesellschaftlicher Kollektive. Auch das Zusammenwirken der Gerichte mit den Gewerkschaften und Volksvertretungen stamme aus dem Erfahrungsschatz der UdSSR-Rechtsprechungsorgane. Insbesondere seien sowjetische Erkenntnisse in die Gesetze der DDR eingegangen. Das betreffe auch die in der Verfassung verankerte demokratische Wahl aller Richter, Schöffen und Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte. Dr. Strassberg verwies auf die immer enger werdende Zusammenarbeit zwischen den Obersten Gerichten der DDR und jenen der Sowjetunion. Regelmäßig führten die Partner Erfahrungsaustausch zu praktischen Fragen durch. In den staatlichen und gesellschaftlichen Gerichten der DDR sprächen Werktätige aus allen Bereichen sozialistisches Recht. Diesen Leninschen Grundsatz von der Rechtsprechung durch das Volk wertete der Vizepräsident des Obersten Gerichts als große Errungenschaft des sozialistischen Staates.

In der Präambel des neuen DDR-eigenen Zivilgesetzbuches heißt es denn auch: im Zivilrecht der DDR finden die „von den Anschauungen der Arbeiterklasse bestimmten Prinzipien der sozialistischen Moral ihren Ausdruck“. Nun, über die „sozialistische Moral“ in der DDR läßt sich streiten. Sozialistische Moral und sozialistisches Recht ist, was der staatstragenden SED nützt. Die Praxis der durch und durch SED-abhängigen Rechtsprechung zeigt sich bereits in dem unerbittlichen Vorgehen gegen sogenannte politische Straftäter. Drei Beispiele mögen hier stellvertretend für das bereits praktizierte sozialistische Recht in der DDR stehen:

£ Ein 22jähriger Student verteilte an seiner Hochschule ein Gedicht von Berthold Brecht aus den dreißiger Jahren über das „Lob des Zweifels“ und widmete es dem Jahrestag der SED-Gründung. Er wurde wegen „staatsfeindlicher Zielstellung“ für vier Jahre ins Zuchthaus Brandenburg geschickt. 0 Zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus wurde ein 60jähriger Verwaltungsangestellter aus dem Raum Potsdam verurteilt, weil er in Briefen an einen Bekannten in Hamburg über seine Eindrücke vom Sozialismus und über Mißstände in der DDR-Wirtschaft berichtet hatte. # Ein 27jähriger SED-Genosse las westliche Zeitungen und gab sie an Freunde und Bekannte welter. Er erhielt wegen „Verbreitung staatsfeindlicher, antisozialistischer und revisionistischer Ideen“ vier Jahre Zuchthaus. Drei Aburteilungen nach sozialistischem Recht. Justizterror im Auftrag einer Partei Rund 190.000 politische Prozesse fanden während der vergangenen 25 Jahre in der DDR statt. Diese Zahl wurde jetzt aus zuverlässiger Quelle bekannt. In diesem Zusammenhang wurden 194 Todesurteile gefällt und die meisten davon auch vollstreckt.

Am 1. Jänner 1976 wird ein neues Zivilgesetzbuch in der DDR wirksam werden. 480 Paragraphen werden dann sozialistisches Recht verkörpern. Die juristische Abgrenzung, die von der SED seit Jahren konsequent gegen den freien Teil Deutschlands vorangetrieben wurde, ist somit vollzogen.

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