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Schmerzhafter Lernprozeß

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Das Thema „Regierungskriminalität in der DDR" stellt sich als äußerst komplexe juridische Materie dar. Das häufig als „Unrechtsstaat" bezeichnete „andere Deutschland" hat einen Rechtskanon hinterlassen, der prinzipiell durch den Einigungsvertrag anerkannt worden ist. Die Aufhebung dieses Rechtskanons hätte bedeutet, daß es in der DDR keinerlei Recht gegeben hätte. Also nicht einmal im Straßenverkehr oder in Ehe-, Familien- und Erbschaftssachen wäre heute noch Gültiges vorhanden. Zahlreiche Rechtsvorschriften des Arbeiter- und Baiiern-staates gelten als Bundes- oder Landesrecht übergangsweise fort. Auch Strafurteile der DDR-Gerichte bleiben grundsätzlich in Kraft, wo ist daher die Grenze zu ziehen zwischen dem, was weiterhin Bestand hat und dem, was als „Unrecht" gebrandmarkt werden soll.

Als deutlichstes Beispiel für als ungerecht empfundene Regelung ist der vielzitierte Schießbefehl an der Grenze zu nennen. Zwar wurde 1982 von der Volkskammer einstimmig (!) das Grenzgesetz verabschiedet, indem die Anwendung der Schußwaffe im Paragraph 27 als gerechtfertigt erscheint, „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt", doch der eigentliche Beschluß zum Schießbefehl wurde im Nationalen Verteidigungsrat gefällt.

Nach bisheriger Kenntnis handelt es sich um eine nicht veröffentlichte geheime Anweisung, die unter anderem Erich Honecker, Erich Mielke und Egon Krenz getroffen haben.

Geheime Anweisungen haben grundsätzlich keinen Gesetzescharakter und stellen auch nach DDR-Recht einen Verfassungsbruch dar. Es gilt daher zu überprüfen, in welchem Ausmaß die politisch Verantwortlichen ihrerseits geltendes Recht gebrochen haben.

Geheimdienst ohne Gesetze

Mit Sicherheit ist auszuschließen, daß es in der DDR einen gesetzlichen Auftrag zur flächendeckenden geheimdienstlichen Überwachung gab. Auch die illegalen finanziellen Transaktionen der SED haben keinen rechtlichen Rückhalt.

Gerichtliche Untersuchungen werden zeigen, daß der Staat DDR bloß Fassade oder Tünche für die SED war. Aus propagandistischen Gründen war die DDR und nicht nur dieses ehemalige kommunistische Land interessiert, nach außen hin ein demokratisches Gesicht zu zeigen. So hat beispielsweise die DDR den „Korb drei" der KSZE in Helsinki unterzeichnet und sich zum freien Transfer von Meinungen und Gedanken verpflichtet. Das Dokument wurde im „Neuen Deutschland" veröffentlicht. Haben sich einzelne oder Menschenrechtsgruppen auf das Dokument berufen, waren sie einer Spezialbehandlung unterworfen: Repression am Arbeitsplatz, Versuch der Zerstörung der Familie und so weiter. Für diese Aktionen gibt es keine schützende rechtliche Deckung im DDR-Rechtskanon.

Geruch der Rache

Die Chance, die politischen Drahtzieher vor Gericht zu bringen und sie dort ohne Aufgabe der eigenen Rechtsstaatlichkeit (es gibt keine rückwirkenden Gesetze) zu verurteilen, besteht darin, daß Honecker und seine Clique an von ihnen geschaffenen Gesetzen gemessen werden.

Strafprozesse sind bekanntlich kein Mittel der Aufklärung, sondern der Überführung. Werden die politischen Führer in ihrer Skrupellosigkeit überführt, die Folterknechte in den Gefängnissen entlarvt und bestraft (das Quälen von Verurteilten war nicht rechtlich gedeckt), dann hätte die öffentliche Diskussion vielleicht eine Chance: Wie sieht die persönliche Verantwortung des einzelnen in einer Diktatur aus? Wie sind die Funktionsbedingungen solcher Herrschaftsformen?

Ein schmerzhafter Lernprozeß aus diesen Fragen wäre heilsamer als alle kläglichen Ergebnisse einer Serie von Gerichtsverhandlungen, denen immer der Geruch der Rache anhaftet.

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