6860253-1977_33_08.jpg
Digital In Arbeit

Deutsch in Ost und West ist nicht dieselbe Sprache

Werbung
Werbung
Werbung

Österreich, Deutschland, die Schweiz und Südtirol - sie alle gehören dem deutschen Sprachraum an. Millionen Menschen überschreiten in allen Richtungen die Grenzen. Fernsehen, Hörfunk senden mitunter in mehreren Ländern gemeinsam. Man sollte meinen, diese zahllosen Kommunikationsströme würden die Sprache vereinheitlichen. Setzt man jedoch Zeitungsausschnitte ohne Quellenangabe nebeneinander, verrät schon die Diktion, aus welchem Gebiet des deutschen Sprachraums das Blatt stammt.

1945 wurde das, was vom Deutschen Reich noch übrig war, in Besatzungszonen aufgeteilt und damit der erste Schritt zur Trennung getan. Daraus entstand die Bundesrepublik Deutschland mit amerikanisch-westlicher und die „Deutsche Demokratische Republik“ mit sowjetisch-östlicher Orientierung in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Die Folge war * auch eine Veränderung der Sprache und ihres Gebrauches.

Univ.-Prof. Peter von Polenz (Heidelberg) zeigt, daß im Westen der englische Spracheinfluß wirksam wurde, sowohl im privaten Gesellschaftsleben (Teenager, Bikini, Playboy, Rocker, Callgirl, Music Box) als auch im wissenschaftlichen Bereich (Computer, Input, Output). In der DDR kamen dagegen weniger russische Lehnwörter zum Tragen, als Lehnübersetzungen: „volkseigen“, „Kulturhaus“,

„Held der Arbeit“ oder Lehnbedeutungen: „aufklären“ im Sinne von .jemanden politisch belehren“.

In den Zeitungen aus der DDR fällt der pathetische Stil auf, der, wie Po- lenz meint, auf die „revolutionäre Gesinnung der deutschen Arbeiterbewegung“ zurückgeht: da werden „herzliche Glückwünsche und brüderliche Kampfesgrüße“ übermittelt oder „Gesundheit und Schaffenskraft“ gewünscht oder von einer Pflanzenproduktion „Vereinigte Kraft“, einer Milchproduktion „Vorwärts“ berichtet. Großer Beliebtheit erfreut sich das Wörtchen „schöpferisch“; „schöpferische Arbeit“, „schöpferisches Handeln fördern“, oder „der Leninsche Genossenschaftsplan wird in der DDR schöpferisch angewendet“.

Dasselbe Ereignis wird auch verschieden dargestellt: Die „Süddeutsche Zeitung“ meldet über die Synode des DDR-Kirchenbundes: „DDR- Christen beklagen Benachteiligung. Hoffnung auf bessere Besuchsmöglichkeiten.“ Anders lautet sie im „Neuen Deutschland“, dem SED-Zen- tralorgan: „Christen tragen Mitverantwortung. Bischof Dr. Schönherr zu Fragen von Politik und Gesellschaft.“ Im Westen berichtet man, daß „die evangelischen Kirchen in der

DDR auf die Diskrepanz zwischen der in der Verfassung garantierten Glaubens- und Gewissensfreiheit und die häufigen Benachteiligungen von Christen im täglichen Leben nachdrücklich aufmerksam“ gemacht haben. In der DDR liest man, daß Bischof Schönherr „in seinem erstatteten Bericht“ lediglich „Bezug auf die Ergebnisse des IX. Parteitages der SED“ nimmt und aus dem neuen Parteiprogramm /.den Passus über Gewissensund Glaubensfreiheit zitiert“.

Unterschiedliche Wortwahl, unterschiedliche Berichterstattung - beides Indizien für eine eigenständige kulturelle, soziale und gesellschaftspolitische Entwicklung. An Hand der beiden Rechtschreibduden - der eine in Mannheim erschienen, der andere in Leipzig - lassen sich diese Behauptungen weiter untermauern. Univ.-Prof. Werner Welzig (Wien) zeigt beim Vergleich vier Tendenzen auf:

• Die Begriffe entwickeln sich zwischen Ost und West auseinander, eine Bedeutungsübereinkunft ist nicht mehr gesichert. „Überbau“ wird in Mannheim als „vorragender Oberbau, Schutzdach und in der Rechtssprache als Bau über die Grenze“ erklärt, in Leipzig heißt es in der Rechtssprache viel genauer: „Errichtung eines Gebäudes über die Grundstückgrenze hinaus“ und zusätzlich „im Politischen, die aus einer bestimmten ökonomischen Basis sich ergebenden politischen, juristischen, philosophischen, religiösen u. a. Anschauungen einer Gesellschaft, einer Epoche und die ihnen entsprechenden Institutionen.“

• Die Begriffsbestimmungen nehmen sowohl in der BRD als auch in der DDR ihre eigene Entwicklung. Es kann auch eine Bedeutungsveränderung innerhalb der verschiedenen Neudrucke des Duden festgestellt werden. So wird etwa „Objektivismus“ immer wieder neu definiert.

• Es zeigt sich eine unterschiedliche sprachliche Entwicklung nicht nur bei ideologischen, sondern auch bei scheinbar wertfreien Begriffen, wie „Kommerzialrat“. Im Westduden ist nur angemerkt, daß es sich um einen österreichischen Begriff handelt, hingegen wird im Ostduden zusätzlich erklärt, daß es ein „Titel für Großkaufleute und Industrielle in der bürgerlichen Gesellschaft“ ist.

• Nicht nur Begriffsbestimmungen sind verschieden, sondern es fehlen auch einzelne Begriffe in dem einen oder anderen Wörterbuch. So kennt der Ostduden weder „Armenhaus“ noch „Schwangerschaftsabbruch“, weder „Kartellverband“ noch „Bardame“.

Polenz meint hierzu, eine Unter scheidung in der administrativen Terminologie sei nicht beunruhigend, da solche Differenzierungen seit je auch zwischen Österreich, der Schweiz und Deutschland existiert haben. Anders ist es allerdings im Bereich des Wortschatzes politischer Ideologien. Wenn „Friede“, „Recht“, „Freiheit“, „Gesellschaft“ in ihrer Sinngebung voneinander wesentlich abweichen, dann können sich daraus erhebliche Schwierigkeiten für die Kommunikation ergeben. „Imperialismus“ wird im Westen als „Ausdeh- nungs- und Machterweiterungsdrang der Großmächte“ definiert, im Osten hingegen als „höchstes und letztes Stadium des Kapitalismus, gekennzeichnet durch die Konzentration von Produktion und Kapital in Monopolen und den Drang zur Neuaufteilung der Welt durch Kriege“.

Im Dritten Reich verordnete Josef Goebbels in seilėm „Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ die jeweilige Sprachregelung. Wenn der „politische Leiter“ den „Funktionär“ ersetzte, wurde damit noch kein Weltbild geändert. Erst durch ständige Wiederholung bestimmter Elemente in gleichem oder gleichtypischem Kontext kann die angestrebte Wirkung erzielt werden. In der DDR entwickelte man eine systematisch ausgebüdete und propagierte Fachsprache, die sich heute wie ein roter Faden durch die Zeitungen zieht. Sie wird im Schulunterricht, in Schulungen und Diskussionen eingesetzt. Der DDR-Bürger ist mit feststehenden offiziellen Definitionen versehen, die er bei Bedarf nur anzuwenden braucht. Er weiß sehr wohl zu unterscheiden zwischen bürgerlicher Demokratie und sozialistischer Demokratie, zwischen (sozialistischem) Gewinn und (kapitalistischem) Profit. Damit ist das Denken festgelegt und die Unterscheidung „gut“ und „schlecht“, je nach Parteilinie.

Diese politische Pädagogik bewirkt die Immunisierung des DDR-Bürgers gegen die Redeweise der Westdeutschen, sie birgt aber auch eine unkontrollierbare Gefahr für den kommunistischen Staat selbst. Sprache und Denken klaffen auseinander. Der DDR-Bürger weiß sehr wohl, was er wo wie sagen darf. Er bedient sich der Terminologie zum eigenen politischen Schutz als „Sprachritual“.

Sprache steht somit in einem doppelten Verhältnis. Sie ist abhängig von den faktischen Gegebenheiten und wird von ihnen geprägt, aber gerade sie ist es, die verändernd wirken kann. Sprachlicher und sozialer Wandel müssen in diesem Wechselverhältnis gesehen werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung