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Linientreue durfen westwarts

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Die SED-Machthaber wollen die steigende Zahl von DDR-Rentnerbesuchen in der Bundesrepublik drosseln. Künftig soll es den DDR-Rentnern schwerer gemacht werden, Angehörige und Freunde im westlichen Teil Deutschlands zu besuchen. In Ostberlin wurde jetzt eine inoffizielle Entscheidung getroffen: Nur „klassenbewußte“ Rer tner sollen künftig ausreisen dürfen! Wer für eir>e Auspreise privilegiert ist, bestimmen jetzt die Organe der Staatssicherheit.

Neu eingeführte Antragsformulare für Westreisen haben unter den Rentnern der DDR bereits erhebliche Unruhe ausgelöst. Wie zu erfahren war, will das DDR-Regime künftig grundsätzlich auch nur noch Fahrten zu engeren Verwandten, nicht aber zu Bekannten oder ehemaligen Arbeitskollegen zulassen. Rentner in der DDR müssen auch künftig dem zuständigen Volkspolizeikreisamt ein Gutachten über ihre Person vorlegen, wenn sie in die Bundesrepublik reisen wollen. Die entsprechenden Gutachten sollen von der Kaderlei-tuag des jeweiligen staatseigenen Betriebes ausgestellt werden, in dem der Rentner zuletzt beschäftigt war.

In einigen Bezirken der DDR wird diese neue Regelung der Ostberliner Machthaber bereits praktiziert. Im Bezirk Neubrandenburg werden beispielsweise seit kurzer Zeit alle Westreise-Antragsteller ungewöhnlich scharf unter die politische Lupe genommen. Zahlreiche Antragsteller, die unter ihren Verwandten Flüchtlinge haben, brauchten erst gar nicht eine Reisegenehmigung zu beantragen. Ihnen wurde schon die Aushändigung des Antragsformulars verweigert. Proteste der Betroffenen wurden kommentarlos zurückgewiesen.

In den meisten Fällen erfahren die DDR-Rentner den wahren Grund der Ablehnung ihrer beantragten Westreise nicht. Die Behördenvertreter gaben lediglich zu verstehen, der Zeitpunkt einer Westreise sei „ungünstig gewählt“. Man wolle den betagten DDR-Bürgern vor „kapitalistischen Machenschaften“ schützen. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die verstärkten Bemühungen der SED-Funktionäre, die Rentner allgemein davon abzuhalten, in die Bundesrepublik Deutschland zu reisen. In Veranstaltungen der sogenannten Volkssolidarität — einer Organisation der staatlichen Wohlfahrtspflege — rufen in letzter Zeit SED-Funktionäre immer häufiger dazu auf, von Westreisen Abstand zu nehmen. Den Rentnern wird nahegelegt, ihre Verwandten und Bekannten vielmehr in die DDR einzuladen.

DDR-Rentner, die beharrlich auf ihrem Recht bestehen, in den Westen reisen zu wollen, müssen künftig mit erheblichen Repressalien der DDR-Behörden rechnen. Auf jeden Fall werden sich die Organe der Staatssicherheit mit solchen Personen näher befassen. Das wurde schon jetzt aus zuverlässiger Quelle bekannt. In den Bezirksverwaltungen des Staatssicherheitsdienstes ist man dazu übergegangen, sogenannte Rentnerkarteien anzulegen, die mit entsprechenden Vermerken versehen werden. An Hand dieser Karteien soll künftig entschieden werden, ob eine Westreise genehmigt oder abgelehnt wird. Wie verlautet, soll bei einer einmal ausgesprochenen Ablehnung durch die Organe der Staatssicherheit ein rechtlicher Einspruch nicht möglich sein.

Bei der Antragstellung für die Genehmigung einer Besuchsreise in den Westen werden die Antragsteller natürlich zunächst persönlich nicht mit den Organen der Staatssicherheit in Berührung kommen. Sie müssen, wie bisher, auch künftig ihre Anträge bei den zuständigen Ämtern der Volkspolizei stellen. In diesem Zusammenhang war schon jetzt zu erfahren, daß künftig nur jene DDR-Rentner die Genehmigung einer Besuchsreise in den Westen erhalten werden, die auf der politischen Linie der SED stehen. Welche Rentner dabei im einzelnen als „linientreu“ klassifiziert werden, wird der Staatssicherheitsdienst bestimmen. Die Organe der Staatssicherheit werden stärker als bisher auf jene DDR-Bürger ein Auge haben, die es sich in den letzten Jahren zur Regel gemacht haben, jährlich 30 Tage bei Verwandten und Bekannten im westlichen Deutschland zu verbringen.

Das Vorzugsrecht der DDR-Rentner, fast problemlos in den Westen reisen zu können, soll nach dem Willen der SED wesentlich beschnitten werden. Schon immer waren den SED-Funktionären die Rentnerreisen in die „kapitalistische“ Bundesrepublik ein Dorn im Auge.

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