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Rotkäppchen und sein Werwolf

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„Ein großer Tag der Kampfgruppen des Unterstabs I im Stadtbezirk Mitte, kurz vor dem 1. Mai. Während auf der Friedrichstraße der Verkehr braust und über die Stadtbahnbrücke diee Züge donnern, sind 15 Hundertschaften am S-Bahnhof zum- Appell-aufmarschiert . . . Jetzt kommt das Kommando'. .Stillgestanden!', der Kommandeur der Hundertschaften des Unterstabes I erstattet dem Ersten Sekretär der Kreisleitung Mitte der Partei, Genossen Brähmer, Meldung. Der Sekretär der Kreisleitung ruft den Genossen Kämpfern zu, daß sie die Waffen zum Schutz der Errungenschaften des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates tragen und daß das ganze demokratische Berlin an der Seite der gegen Atomtod und für eine atomwaffenfreie Zone kämpfenden West-Berliner Bevölkerung steht.

Die kampferprobten Veteranen der Partei haben rote Sturmfahnen in den Händen und tragen Maschinenpistolen auf dem Rücken, die sie nun in einem feierlichen symbolischen Akt den Hundertschaften übergeben. Jetzt tritt der Parteibeauftragte der Kampfgruppen, Genosse Rolf Elias, vor die angetretenen Formationen und spricht die Verpflichtung:

,Ich verpflichte mich, als Angehöriger der Kampfgruppe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, getreu den Prinzipien der Arbeiterklasse gewissenhaft und ehrenvoll meine Pflicht gegenüber unserem Arbeiter- und Bauernstaat zu erfüllen;

durch regelmäßige Teilnahme an der Ausbildung meine politische und militärische Qualifikation zu verbessern;

Befehle als Aufträge der Partei und unseres Staates zu betrachten und sie verantwortungsbewußt zu erfüllen;

an der Seite der anderen bewaffneten Kräfte der DDR und der Armeen des sozialistischen Lagers rückhaltlos für den Schutz unserer Heimat und den Sieg des Sozidwoius einzutreten.' ,Wir bekräftigen dieses Gelöbnis mit dem Ruf: Das geloben wir!' schließt er, und tausendstimmig hallt es zurück: ,Das geloben wir!“ “ *

So geschehen in Ost-Berlin am 26. April 1958. Fünf Jahre sind es her, daß in der Zonenrepublik die Kampfgruppen der SED ins Leben gerufen wurden, und heute stellen sie ein wichtiges Werkzeug der Politik Walter Ulbrichts dar. Mit diesem kommunistischen Volkssturm glaubt er, ein Instrument zu haben, mit dem er jeden Aufstand in Mitteldeutschland im Keime ersticken kann.

Obwohl eine Arbeitermiliz bereits vor dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 von der SED geplant war, gab der 17. Juni den eigentlichen Anstoß zum Aufbau der Kampfgruppen. Zu Beginn des Jahres 1954 wurden in fast allen staatlichen Betrieben der Zone Gruppen zusammengestellt, die den „Schutz der Heimat und die Verteidigung der Errungenschaften der Deutschen Demokratischen Republik vor Sabotage, .Zerstörung, Verwüstung und, .solchen faschistischen Provokationen wie ata*- 17. fJurff'JvJäbefi* nehmen sollten. Die Aufstellung ging seinerzeit in der üblichen erzwungenen Freiwilligkeit vor sich, so daß Mitte des Jahres 195 5 in den wichtigsten „volkseigenen Betrieben“ Kampfgruppen vorhanden waren. Diese Einheiten waren — wenn auch mangelhaft — bewaffnet. Die Angehörigen dieser Kampfgruppen erhielten eine militärische Ausbildung, die an vier Wochentagen, abends, und an einem Sonntag im Monat zu absolvieren war.

Die Ausbildungsmethoden entsprachen etwa der vormilitärischen Ausbildung der ehemaligen Hitlerjugend: Kartenlesen, Geländekunde, Kleinkaliberschießen, Uebungen im Gelände und so weiter. Die Kampfgruppen unterstanden von Anfang an der SED, meistens war der Erste Sekretär der Betriebsparteileitung verantwortlich. Eine Kampfgruppe gliedert sich in „Hundertschaften“. Diese sind wiederum in Züge (etwa 20 Mann) und Gruppen (etwa 10 Mann) unterteilt. Zwei Gruppen bilden' einen Zug, fünf Züge eine Hundertschaft.

Die militärische Ausbildung obliegt Instrukteuren der VoiKspolizei. Von ihnen werden die Kampfgruppenkommandeure, Hundertschaftsleiter, Zugführer und Gruppenführer angeleitet. Diese Gliederung ist heute noch gültig. Das Aufgabengebiet der Kampfgruppen wurde inzwischen erweitert. Zwar ist nach wie vor Hauptzweck der „Arbeiter- und Bauernbataillone“, betriebliche Unruhen zu unterdrücken, aber das Einsatzgebiet ist heute nicht mehr auf den Betrieb beschränkt. Sie wurden zu regelrechten Partisaneneinheiten ausgebaut, die im .„Ernstfalle“ die „Nationale Volksarmee“ unterstützen sollen.

Bis 1956 stellten allerdings die mit viel Getöse aufgestellten Kampfgruppen keinen großen Wert für das SED-Regime dar. Durch den überstürzten Aufbau wurden viele Arbeiter zu diesem „Ehrendienst“ gepreßt, die keinesfalls dem Regime so treu ergeben waren, wie Ulbricht sich das wünschte. Allmählich dämmerte den SED-Funktionären, daß es eine sehr gefährliche Sache sein kann, in einem „Arbeiter- und Bauernstaat“ die Arbeiter zu bewaffnen. Nicht nur die Geschichte zeigt das (Kronstadt!), auch Ereignisse im SED-Staat ließen für den Ernstfall nichts Gutes ahnen. Sehr viele Kampfgruppenmitglieder weigerten sich, bei Streiks in der Zone gegen die „faschistischen Provokateure“, wie die SED streikende Arbeiter in ihrem Machtbereich zu nennen pflegt, vorzugehen.

Aus diesem Grunde wurden die Waffen der Kampfgruppenmitglieder schleunigst von der Volkspolizei eingesammelt und in deren Dienststellen in sicheren Gewahrsam genommen. Heute erhalten die Mitglieder der Kampfgruppen erst vor den Uebungen ihre Waffen von der Volkspolizei ausgehändigt. Die zweite Maßnahme der SED bestand darin, alle dem Regime nicht treu ergebenen Mitglieder aus den Kampfgruppen zu entfernen. Durch diese Säuberungswelle schmolz die Kopfstärke der Gruppen zwar dahin, aber gleichzeitig wurde die Zuverlässigkeit erhöht.

„Für die Stärke unserer Kampfgruppen, für ihre. Kampf- und Einsatzbereitschaft, ist neben den militärischen Kenntnissen und Fähigkeiten vor allem das politische Bewußtsein der Kämpfer ausschlaggebend . . . Von den Angehörigen der Kampfgruppe (es handelt sich um die Kampfgruppe des Stahl- und Walzwerkes Riesa/) sind 94 Prozent Träger von Auszeichnungen, zum Beispiel Bestarbeiter, Aktivisten, Verdiente Aktivisten, Träger der Auszeichnung .Banner der Arbeit', Helden der Arbeit, Verdiente Erfinder und so weiter*.“ „Kampfgruppenmitglieder sind politische Kämp-1f?r*HMie¥W*g%ft 10, 1957, Organ des ZK der SED.

Daß diese Ausgezeichneten alle linientreue SED-Genossen sind, bedarf keiner besonderen Unterstreichung. Ein einfacher Arbeiter würde sich hüten, die Norm so hoch zu treiben, daß er zum Helden der Arbeit würde.

Alle Anstrengungen der SED laufen heute darauf hinaus, die Mitglieder der Kampfgruppen zu zuverlässigen Verteidigern der Ulbrichtschen Politik zu machen.

„Es ist offensichtlich“, betont der Kampfgruppenkommandeur für den Kreis Ost-Berlin-Mitte, „daß wir nicht nachlassen dürfen, die politisch-ideologische Erziehung, die militärische Ausbildung und die Entwicklung einer straffen, militärischen Disziplin in den Kampfgruppen ständig zu verbessern, um die von der Partei gestellten Forderungen erfüllen zu können.“ Er empfiehlt zudem: „Zur weiteren Stärkung der Kampfkraft der Kampftruppen ist es außerdem erforderlich, daß sich die Parteileitungen darum sorgen, den Kampfgruppen ständig neue zuverlässige und körperlich geeignete Mitglieder zuzuführen. Auf keinen Fall darf eine zahlenmäßige Verstärkung der Kampfgruppen auf Kosten der politischen Zuverlässigkeit erfolgen, denn das würde die Kampfkraft der Hundertschaften lähmen.“

Das Ausbildungsprogramm wurde inzwischen ebenfalls geändert. Was früher erheiterndes Geländespiel war, ist nunmehr ernstem Drill gewichen. Die Grundausbildung umfaßt etwa 30 bis 3 5 Wochen, in denen regelrechte Manöver durchgeführt werden. Hierbei werden beispielsweise geübt: Sturmangriff auf gegnerische Stellungen, Kampf in der gegnerischen Stellung, Gefangennahme bzw. Vernichtung des Gegners usw. Das Alter der Kampfgruppenmit-glieder wurde auf 25 bis 60 Jahre festgelegt, als Uniform wird blauer Anzug (Kombination) mit roter Armbinde getragen. Frauen finden nur im Sanitätsdienst Verwendung.

Das Planziel sieht vor, daß die Betriebskampfgruppen eine Stärke von 200.000 bis 250.000 Mann erreichen sollen. Die tatsächliche Stärke ist selbstverständlich kaum zu kontrollieren, aber diese Zahlen dürften heute in der Tat erreicht sein. Walter Ulbricht hat sich mit den Betriebskampfgruppen einen Apparat geschaffen, der ernst zu nehmen ist. Die Schwächen, die dieser Organisation bis vor kurzem noch anhafteten, sind überwunden. Wichtigste Aufgabe ist nach wie vor der Betrieb. Durch die Kampfgruppen soll jede Opposition der Arbeiter gegen die SED-Herrschaft im Keime erstickt werden. Ein Uebergreifen von Unruhen auf mehrere Betriebe oder gar auf die gesamte Zone, wie es am 17. Juni geschah, wird kaum noch möglich sein. Und genau das wollten die SED-Führer erreichen. Selbst wenn man einen Unsicherheitsfaktor in der Haltung der einzelnen, :M.ifglieder der Gruppen einkalkuliert .gehU Ulbrichts Rechnung doch auf. Oppp.sition,fjjlr eingestellte Arbeiter würden sich wahrscheinlich erst dann offen gegen das SED-Regime stellen, wenn eine gewisse Ausbreitung von Streiks vorhanden wäre. Dann würden wahrscheinlich auch die Betriebskampfgruppen nicht mehr ganz auf der Seite des Regimes stehen. Aber eine Ausweitung einzelner Streiks ist eben durch das enge Netz der Kampfgruppen kaum noch möglich.

Innerhalb des Betriebes sollen die Kampfgruppenmitglieder zudem als Normentreiber auftreten. In einem Aufruf „an die Genossen Kämpfer“ heißt es:

„Arbeitet so vorbildlich in der Produktion beim Kampf um die Ueberwindung der Planrückstände, wie ihr vorbildlich unsere sozialistischen Betriebe vor allen Anschlägen der imperialistischen Feinde und ihrer Lakaien schützt! Unsere Kämpfer treten auch in der politischen Diskussion an ihrem Arbeitsplatz auf, so zum Beispiel in der Zeit der Angriffe der Konterrevolution auf die Arbeiterund Bauernmacht in Ungarn. Das heißt, die Kampfgruppen sind nicht nur ein Instrument zum militärischen Schutz der Errungenschaften unserer Arbeiter- und Bauernmacht, sondern die Kämpfer treten im Betrieb bei der Erziehung der Werktätigen zum sozialistischen Bewußtsein selbst konsequent als Agitatoren auf und verfechten den proletarischen Internationalismus.“ Außerhalb der Betriebe stehen die Kampfgruppen zur Unterstützung der sowjetzonalen Armee bereit. Vorbild der Kampfgruppen sind nach offizieller SED-Version jene „Arbeiterbataillone der Tschechoslowakei, die im Februar 1948 die Konterrevolution verjagten und den Schutz der Tschechoslowakei in ihre eigenen ( Hände nahmen“.

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