6831402-1974_41_07.jpg
Digital In Arbeit

Begeisterung mit Stöhnen

Werbung
Werbung
Werbung

In den DDR-Streitkräften gibt es nach wie vor Probleme mit der Disziplin, wie verschiedene Berichte in der Ost-Berliner Militärpresse zeigen. So wird beispielsweise in der jüngsten Ausgabe der Ost-Berliner Zeitschrift „Militärwesen” erklärt, daß sich die Festigung der militärischen Disziplin und Ordnung „nicht immerin dem für die Entwicklung der Gefechtsbereitschaft notwendige« Tömpo” vollziehe: Es komme vor allem dort „oft zu Disziplinarverlet- zungen und zu besonderen Vorkommnissen”, wo noch „Unklarheiten” in den Köpfen der Soldaten herrschten oder wo „Argumente des Gegners Platz gefunden” hätten. Viele Verfehlungen würden aus Leichtsinn oder aus Unwissen begangen, „weniger mit voller Absicht, um unserem sozialistischen Staat zu schaden”. Oft führe auch Alkoholgenuß zu Disziplinlosigkeit.

Nach außen hin gibt sich die Armee der DDR als eine ungemein straffe Truppe, die — drakonisch gedrillt — nicht unter inneren Schwierigkeiten zu leiden hat. Wenn der Stechschritt irgendeines Verbandes bei irgendeiner Parade in irgendeiner Stadt ganz im traditionellen Stil auf das Pflaster knallt, mögen auch in der Bundesrepublik, wohin das Fernsehen zuweilen die Bilder von drüben bringt, die Herzen mancher Leute höher schlagen. Männer, die das „Damals” in ihrer Erinnerung verklären, verwechseln Zackigkeit mit Kampfmoral, obwohl ihnen die soldatische Erfahrung am eigenen Leibe sagen müßte, daß ein Übermaß an Formalismus nicht immer ein Beweis für die Tüchtigkeit einer Streitmacht ist.

Im Gegensatz zu westlichen Streitkräften, die ihre Schwächen deutlicher als ihre Stärken betonen, strengt sich die DDR-Volksarmee an, ihre moralischen Mängel durch zak- kiges Auftreten zu überdecken. Denn eine Truppe, die an Mauern und Stacheldraht auf die eigenen Landsleute schießen muß, an eine freie Diskussion nicht denken darf und ohne ein raffiniertes Spitzelsystem kaum im Sinne des Regimes funktionieren kann, neigt von vornherein zu dem krampfhaften Bemühen, Strammheit zu demonstrieren.

So hat es beispielsweise allein im Bereich der Kommandatur Berlin in einem einzigen Monat mehr als 180 schwere Strafen wegen Befehlsverweigerung, tätlicher Angriffe auf Vorgesetzte, schlampiger Uniformen und besonders Alkoholmißbrauches gegeben. Die Zahl der Soldaten, die zur Bewährung in Bau-Bataillone versetzt wurden, hat sich im Ver gleich zum Vorjahr um 16 Prozent erhöht. Das wurde jetzt aus zuverlässiger Quelle bekannt.

Obwohl sich die Politoffiziere der DDR-Streitkräfte redliche Mühe geben, die von ihren Vorgesetzten gegebenen Befehle in den ihnen anvertrauten Einheiten in die Tat umzusetzen, nämlich den Soldaten ein „klares Freund-Feind-Bild” zu ver- ttütteln, dessen wesentliche Komponenten die „Liebe zum sozialistischen Lager und der Haß auf die kapitalistischen Staaten” sind, konnten sie nicht verhindern, daß vom Bau der Mauer in Berlin bis heute annähernd 3500 Soldaten der Volksarmee in die Bundesrepublik geflohen sind. Denn die meisten der „Gardesoldaten vom Kommando Grenze” sind auch heute — trotz täglicher intensiver Politschulung — noch immer nicht willens und in der Lage, auf wehrlose Flüchtlinge gezielte Schüsse abzugeben. General Ernst Peter, der Kommandeur der Grenztruppen, deren offizielle Aufgabe es ist, die 1381 Kilometer lange „Staatsgrenze West” gegei) das „Eindringen westlicher NATO-Frovokateure” abzuschirmen, muß letztlich für jeden gelungenen Fluchtversuch eines Grenzsoldaten geradestehen. Man kann nicht sagen, daß seine Untergebenen ihm das besonders leicht machen.

Da schwamm ein Soldat auf einer Luftmatratze über die Ostsee in die Freiheit. Ein anderer nützte einen Urlaubsaufenthalt an Bulgariens Goldstrand, um von dort nach Österreich zu fliehen. Andere wählten den „normalen”, wenn auch gefährlichsten Weg: den durch Minen und Stacheldraht. Denn die Angst um die Gesundheit, um Leib oder Leben war für diese Jungen gering im Vergleich zu ihren Lebensbedingungen und dem kontinuierlichen Gewissenskonflikt infolge des Schießbefehls.

In diesem Zusammenhang verdient die Disziplinär- und Beschwerdeordnung der DDR-Armee einige Beachtung. Darin heißt es, daß jeder Armeeangehörige auf dem Dienstweg eine schriftliche Meldung machet! könne, sofern fesfsteht, daß

„Volkseigentum entwendet oder beschädigt worden ist, finanzielle Mittel ungesetzlich verausgabt werden, Mißbrauch bei der Versorgung der Truppe getrieben wird oder daß es andere Unzulänglichkeiten gibt, die der Gefechtsbereitschaft der Nationalen Volksarmee schaden”. Dabei gibt es freilich eine unabhängige Beschwerdeinstanz nicht. Gegen Schikanen von Vorgesetzten haben die NVA-Soldaten so gut wie keine Beschwerdemöglichkeit, und da stets der Dienstweg einzuhalten ist, werden sie sich hüten, eine Meldung dieser Art abzugeben.

So zeigt sich in alldem, wie die DDR-Armee — durchdrungen von der Partei — mit politischen Forderungen überhäuft wird, die ihren militärischen Dienst belasten, wie sie immer wieder auf stur zu schalten versucht, um dem steten Propagan- da-Tam-tam zu entfliehen, wie sie jedoch von Aktion zu Aktion getrieben bleibt, somit nicht die Ruhe findet, die sie für ihre Konsolidierung braucht. Mit Ächzen und Stöhnen mimt Ost-Berlins Streitmacht Begeisterung, weil das noch am besten die SED-Kontrolleure, die letztlich über die Karrieren entscheiden, zur Zufriedenheit veranlaßt. In Wahrheit mindert der scheinbare Drang zur Übererfüllung des Solls freilich das Haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung