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Die Schuld hat viele Gesichter

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Diverse Beschuldigungen der Stasi-Mitarbeit haben die Kirche wehrlos gemacht, so der thüringische Landesbischof Werner Leich vor seinem Gang in den Ruhestand. Mit Hilfe des KGB - enthüllten frühere DDR-Bürgerrechtler, darunter der Berliner Literat Lutz Rathenow - wollte der Staatssicherheitsdienst sogar die Vatikan-Politik beeinflussen und die Kirche unterwandern. Rathenow, FURCHE-Gesprächs-partner in finsteren Zeiten, war einer der ersten, die ihre Stasi-Akten einsahen. Er stellt sich der Vergangenheitsbewältigung.

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Diverse Beschuldigungen der Stasi-Mitarbeit haben die Kirche wehrlos gemacht, so der thüringische Landesbischof Werner Leich vor seinem Gang in den Ruhestand. Mit Hilfe des KGB - enthüllten frühere DDR-Bürgerrechtler, darunter der Berliner Literat Lutz Rathenow - wollte der Staatssicherheitsdienst sogar die Vatikan-Politik beeinflussen und die Kirche unterwandern. Rathenow, FURCHE-Gesprächs-partner in finsteren Zeiten, war einer der ersten, die ihre Stasi-Akten einsahen. Er stellt sich der Vergangenheitsbewältigung.

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Fein säuberlich sind in den Stasi-Akten über Lutz Rathenow auch jene Gespräche verzeichnet, die er 1988 in seiner Wohnung in der Ostberliner Gabelsbergerstraße und 1989 während einer Kurzvisite in Wien mit mir geführt hat. Die FURCHE als subversives Element, staatsgefährdend gewissermaßen, konspirativ veranlagt: Lutz Rathenow lacht heute über die Akribie der Leute des. DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die noch einmal abgeschrieben und kommentiert haben, was in westlichen Medien öffentlich zugänglich war.

„Ihren Namen haben die Stasi-Leute mehrmals falsch geschrieben", erzählt mir Rathenow in einem Telefongespräch. „Es sollte herausgefunden werden, wer Sie sind -offenbar sind sie wegen der unterschiedlichen Schreibweise Ihres Namens auf keinen grünen Zweig gekommen; und dann gab es da auch schon die Ausreiseflut von DDR-Bürgern über Ungarn, Vorboten der Wende, da hatten sie dann anderes zu tun." Rathenow hat in seinen Akten auch Aufzeichnungen über die ORF-Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi gefunden, „die genau beobachtet wurde, wenn sie in der DDR filmte".

Der Berliner Literat folgert daraus, daß es durch Treffen mit Ausländem; mittels vieffäl-; tiger oppositioneller Tätigkeit, LeSungen in Kirchen, Veröffentlichungen im Samisdat gelungen sei, „den repressiven Apparat an sich zu binden". Das heißt: .Jeder, der in der DDR ungehorsam war, hat beigetragen, Stasi-Kräfte zu binden. Hätte es nur dreimal so viele Oppositionelle gegeben, wäre es bald zum Leerlauf des Systems gekommen." Das bedeutete für DDR-Schriftsteller: „Die Stasi hetzte dauernd der literarischen Arbeit hinterher - und hatte kaum Erfolg. Sie planten die Kriminalisierung von literarischem Arbeiten, fanden aber nie das letzte Beweismittel, das ganze liest sich in den Akten ziemlich grotesk." Rathenow verweist auf die Notwendigkeit von Zivilcourage in jeder Gesellschaft. „Man hat es ja im Herbst 1989 gesehen: Das System war nicht mehr in der Lage, die Menschen zu unterdrücken, als sie auf die Straße gingen."

Aus den Stasi-Berichten, das hat Rathenow in vielen Gesprächen mit Betroffenen erfahren, die in der sogenannten Gauck-Behörde in Berlin Einsicht in ihre Akten nahmen, ergeben sich verschiedene Einsichten in das Funktionieren des Unterdrückungsapparats. Damit erteilt der 40jährige seinerzeitige Dissident allen jenen einen Verweis, die plötzlich davon sprechen, diese Aufzeichnungen taugten eigentlich nicht viel. Natürlich - so Rathenow - gelte es noch viele Zwischenfragen zu klären, „man muß den Stasi-Berichten nicht glauben", aber es werde klar, wie sich der Apparat organisiert hat und wie der Einzelmensch in diesem System zu funktionieren hatte.

Das „Hineinlesen in die MfS-Welt zu seiner Person" bezeichnet Rathenow als positiven Vorgang, der zu anderen Ergebnissen als den durch Massenmedien vermittelten führe: „Es gibt eine Menge an Erkenntnissen, vor allem kommt es zu einer Entspannung der vorher gespannten Lage." Rathenow: „Die sich mit ihren Stasi-Akten beschäftigen, müssen wissen, daß es nicht um sie geht, wenn sie ihre Namen lesen. Es ist der Staatsfeind in ihnen, den sie aus den Menschen herausselektieren, beobachten und bekämpfen wollen. Es ist die Leidenschaft, der Zufall, das Chaos - das simple Leben schlechthin, das sich durchplanten Staaten widersetzt. Deshalb können sie Menschen zersetzen, in erstaunlich beängstigende Formen der Schizophrenie treiben (Rathenow gibt als Beispiel die Bespitzelung der Friedensaktivistin Vera Wollenberger durch ihren Ehemann Knud, Deckname „Donald") - sie können jedoch keinen positiven Wert leben."

Klipp und klar wendet sich der Literat gegen jene, die - „vielleicht aus einem schlechten Gewissen heraus" - die öffentliche Diskussion über den Stasi-Apparat und die Zersetzung der Gesellschaft „in unfruchtbare Bahnen lenken wollen, indem sie sagen, das ganze stifte nur Unfrieden". Eine gewisse Unlust auf bundesdeutscher Seite, sich intensiv auf DDR-Themen einzulassen, meint Rathenow, führe auch zu Ungenauigkeiten, zu einer „vorschnellen Bereitschaft zum Verstehen von Kollaboration".

„Man bringt manchmal soviel Verständnis dafür auf, daß ich fast ein schlechtes Gewissen habe, nicht mitgemacht zu haben", überspitzt der Literat seine Situation. „Sehen Sie, der Haupttenor im Fall des brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe ist, man könne nicht erwarten, daß er Widerstandskämpfer gewesen sei. Damit wird schon im voraus vergeben, man sieht nur mehr die eigentlichen Straftaten, alles andere wird entschuldigt; diese Haltung wurde ja auch im Prozeß gegen die Mauerschützen an den Tag gelegt. Ich glaube aber, man darf nicht nur ein paar Straftaten herauspicken und alles andere mit einer Art Blankoscheck von Verantwortung freisprechen. Ich hoffe, daß die Aktenaufarbeitung jenen entgegenwirkt, die solches versuchen."

Rathenow zählt Schicksale auf, aus denen hervorgeht, daß man in der ehemaligen DDR „auch anders überleben" konnte: den Fall Poppe, den Fall Wolfgang Templin, die sich widersetzten beziehungsweise aus früheren Abhängigkeiten herauslösen konnten. „Das Aktenstudium zeigt auch die andere Seite, positive Dinge für das Selbstbewußtsein der DDR-Bürger. Und das geht in eine andere Richtung als bloß Enthüllung, Sensation und dann ab in die Geschichte."

Neben rascher Bereitschaft zum Vergeben konstatiert Rathenow auch eine vorschnelle Schuldzuweisung: die Stimmung drohe zu kippen. Dies deswegen, weil man versuche, das gesamte Problem eilig mittels der Kategorien des bundesrepublikanischen Rechtsstaats zu lösen: Da bleibe dann nur die Wahl zwischen Entschuldigung oder Beschuldigung. Dem Spiel „Politikerverurteilung" kann Rathenow ebensowenig abgewinnen wie dem Abschieben des Problems auf die Gerichtsbank der Geschichte. Ostdeutsche Intellektuelle - Rathenow: „Wir hatten den interessanteren, unsere westdeutschen Kollegen den langweiligeren Teil der Geschichte" - werden jetzt den ungeheuren Leidensdruck produktiv verarbeiten müssen. Auch für Sprachforschung biete das Stasi-Material ein riesiges Anschauungsmaterial: „Kein Geheimdienst der Welt hat so diffizil seine Steuerungsversuche schriftlich festgelegt."

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