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Ewiger europäischer Friede?

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Gibt es einen sogenannten „Geist von Moskau““? Was verbirgt sich nach dem Gipfel zwischen Nixon und Breschnjew für uns Europäer hinter dieser aus der Geschichte abgeleiteten Hoffnung auf eine Besserung des politischen Klimas? Eine zwangsläufige Enttäuschung wie nach den Treffen der Regierenden in Genf, Camp David oder Wien? Gibt das nukleare Arrangement der Supermächte eine genug breite Verständigungsbasis für eine künftige Neuordnung Europas? Die beiden Kürzel, das Konsonantenungetüm MBFR, stellvertretend für den englischen Ausdruck „Mutual Balanced Force Reductions“ (zu deutsch: beiderseitige ausgewogene Truppenverminderung), und die Kurzbezeichnung KSE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), werden aller Voraussicht nach die Schlagworte für die Argumentation und Diskussion in der politischen Arena der nächsten Jahre abgeben. Grund genug, um sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen.

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Gibt es einen sogenannten „Geist von Moskau““? Was verbirgt sich nach dem Gipfel zwischen Nixon und Breschnjew für uns Europäer hinter dieser aus der Geschichte abgeleiteten Hoffnung auf eine Besserung des politischen Klimas? Eine zwangsläufige Enttäuschung wie nach den Treffen der Regierenden in Genf, Camp David oder Wien? Gibt das nukleare Arrangement der Supermächte eine genug breite Verständigungsbasis für eine künftige Neuordnung Europas? Die beiden Kürzel, das Konsonantenungetüm MBFR, stellvertretend für den englischen Ausdruck „Mutual Balanced Force Reductions“ (zu deutsch: beiderseitige ausgewogene Truppenverminderung), und die Kurzbezeichnung KSE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), werden aller Voraussicht nach die Schlagworte für die Argumentation und Diskussion in der politischen Arena der nächsten Jahre abgeben. Grund genug, um sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen.

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Das Europa der Nachkriegsära ist gleichermaßen durch politische wie geographische Asymmetrie gekennzeichnet. Dies setzt einer politischen Entspannung und einem damit möglicherweise verbundenen Truppenabbau von vornherein Grenzen. Diese Asymmetrie ist nicht nur in der militärisch unterschiedlichen Gewichtigkeit der beiden Verteidi-gungsallianzen gegeben, nicht nur in der unterschiedlichen geopolitischen Situation, daß der Protektor der osteuropäischen Staaten eine europäische Macht, jener der Westeuropäer hingegen ein atlantischer, also außereuropäischer Partner ist, sondem vielmehr noch in der Asymmetrie der politischen Ambitionen.

Mit dem Abschluß des Gewaltverzichtsabkommens zwischen Bonn und Moskau einerseits und Warschau anderseits hat sich mit der Bundesrepublik vermutlich der letzte westeuropäische Staat mit dem sowjetischen Machtbereich als einer Folge des zweiten Weltkrieges abgefunden. Dies darf nicht als Kapitulation der freien Welt vor dem Machtdruck aus dem Osten aufgefaßt werden. Es soll uns auch auf keinen Fall zu einer ausschließlich negativen Beurteilung der westlichen Position bei den bevorstehenden Kontakten auf einer sogenannten Sicherheitskonferenz hinreißen lassen. Nüchterne Analyse und Beurteilung tut mehr not denn je.

Ourt Gasteyger, der prominente Schweizer Politologe, formulierte kürzlich auf einem Seminar der Außenpolitischen Gesellschaft im niederösterreichischen Hernstein die politischen Ziele des Kremls als die einer Macht mit dem Anspruch auf eine Entwicklung nach dem „Status quo plus“. Die Moskauer Führung wird ihre Absichten dorthin orientieren, wo es gelingt, mit möglichst geringem Aufwand ein Maximum an imperialistischer Machitfülle zu gewinnen.

An dieser Stelle scheint es angebracht, einen kurzen historischen Einschub zu tätigen. Einen Rückblick, der das Bild korrigieren soll, wonach die Initiativen zu beiden Fragenkomplexen eindeutig vom Osten ausgingen. Dies muß um so eher geschehen, als es not tut, die politischen Führer des Westens von dem falschen Odium zu befreien, sie wären bereits zu Erfüllungsgehilfen einer vom Osten diktierten Entspannungseuphorie geworden.

Im Gegenteil, es muß, angesichts der bevorstehenden Gefahr einer geschickt gesteuerten Propaganda-offensive des Ostens, alles unternommen werden, um den Boden so zu bearbeiten, daß die Saat einer kommunistischen Agitation in Sachen Entspannung auf den Grund einer wohlaufgeklärten Öffentlichkeit fält. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß dies nicht mit den Schlagworten der unmittelbaren Nachkriegsära geschehen darf. Das atomare Patt, letztlich sanktioniert im Moskauer SALT-Abkom-men, ließ in naher Vergangenheit die gegenseitige politische Verteufe-lung immer unglaubwürdiger erscheinen. Die öffentliche Meinung des Westens ist daher einer fortdauernden Frontstellung gegenüber dem Osten überdrüssig geworden. Hier mit abgegriffenen Phrasen des kalten Krieges argumentieren zu wollen hieße, diese kritische Schicht in den geistigen Bannkreis einer östlichen Agitation zu treiben.

Seit dem Harmel-Report des Jahres 1967 stützt sich das politische Konzept des Nordatlantikpaktes auf die Doppelstrategie von Verteidigung und Entspannung. Nur ein politisch wie militärisch ausgewogenes Gleichgewicht kann einer Entspannungspolitik den nötigen Rückhalt bieten. Die gesellschaftspolitische Krise in den westlichen Demokratien, die kaum mehr zu verleugnende Wehrunwilligkeit der in einem Übermaß an Freiheitskonsum lebenden Jugend, hat hier eine schiefe Optik entstehen lassen.

Die NATO scheint trotz äußerer Symptome, die auf einen inneren Zerfall ihrer Schlagkraft schließen ließen, im Jahre 1972 politisch konsolidierter zu sein als noch vor wenigen Jahren. Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft hat die politische wie wirtschaftliche Integration Westeuropas beschleunigt. Frankreichs Rivalität mit England, noch nicht gänzlich beseitigt, hat doch bereits zu Initiativen geführt, die in eine verstärkte Reintegration der Franzosen in der NATO münden könnten.

Die Zeichen zu einem Entspannungswillen wurden daher nicht in Karlsbad, Tiflis oder Prag gesetzt, sie kamen aus Rom, Reykjavik oder Lissabon — um nur einige Konferenzen der Blöcke zu nennen, auf denen es zu Offerten in Richtung auf einen Spannungsabbau kam.

Trotz unterschiedlicher politischer Absichten und Ambitionen kann eine gewisse gemeinsame Plattform für diese Tendenzen nicht geleugnet werden. Diese liegt zweifellos in dem budgetären Druck der Verteidigungslasten begründet, den die immer komplizierter strukturierten Waffensysteme auslösen. Vor allem raubt er den Sowjets, als der bereits geschilderten Macht mit Status-quo-plus-Ambitionen, die Möglichkeit, den Druck in Zonen geringerer Konfrontation zu verlagern und so eine größere Machtausbeute zu erzielen.

Die logisch erscheinende Schlußfolgerung, daß es daher nur allzu opportun wäre, Moskau in einer andauernden Konfrontation mit der

NATO zu belassen, könnte sich als mathematisches Rechenbeispiel mit falschem Stellenwert erweisen. Für den Osten ergibt sich der Konsumzwang und das daran orientierte und darauf abgestimmte Wirtschaftssystem noch keineswegs mit jener unwiderruflichen Notwendigkeit wie etwa für den Westen. Moskau vermag in einer für uns unglaublich kurzen. Spanne wieder ausschließlich

Kanonen und Panzer statt Waschmaschinen und Autos zu produzieren. Sieht man nun von diesen wirtschaftlichen Aspekten ab, die den Drang zu einer Entspannung markieren, welche sonstigen Hoffnungen legt der Kreml in eine Neuorientierung der europäischen Sicherheitsordnung? Wiewohl Moskau damit rechnen muß, daß eine Entspannung mit einer Öffnung des eigenen Einflußbereiches verbunden ist, scheint man hiebei auf jene Ausgewogenheit zu hoffen, die sich durch neue Einflußmöglichkeiten der sowjetischen Politik im Westen ergeben könnten.

Der Westen seinerseits tut allerdings gut daran, gleichlaufende Ambitionen aus seinen Überlegungen zu streichen. Die vermeintlich schiefe Optik dabei, daß einer westlichen Enthaltsamkeit im Osten eine sowjetische Aktivität im Westen gegenübersteht, muß als unumstößlich akzeptiert werden. Denn Hoffnungen, über den Weg der Entspannung eine Aufweichung der inneren Strukturen in den osteuropäischen Satelliten steuern zu können, dürften unweigerlich in einer neuen Prager Invasion münden.

Das Ziel der westeuropäischen Verhandlungsstrategie kann daher nicht heißen, die sowjetische Hegemonie und Kontrolle über Osteuropa abzubauen — und womöglich dafür den Preis einer Aufgabe der Partnerschaft mit den USA zu zahlen —, sondern diese politische Bevormundung des Kremls weitgehend entbehrlich zu machen. Der Anknüpfungspunkt liegt sicherlich in einem Abbau des gegenseitigen Mißtrauens, in der Harmonisierung der Beziehungen und in einem Kooperationsangebot auf Gebieten, die auf der Wunschliste des Ostens stehen.

Die Moskauer Gipfelgespräche und das Nichtzustandekommen des amerikanisch-sowjetischen Handelsvertrages zeigen ein deutliches Faustpfand für die westliche Strategie auf. Im Gegenzug müßte dann der Abbau jener Schranken gefordert werden, die einer echten Liberalisierung der Beziehungen im Wege stehen — die Durchlässigkeit der Grenzen nach beiden Seiten und der freie Informationsaustausch zwischen beiden Gesellschaftsordnungen.

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