6806297-1972_09_08.jpg
Digital In Arbeit

„Tante Emmas Kaffeetratsch“

Werbung
Werbung
Werbung

Das wirkungsvollste Argument, mit dem Willy Brandt in der Rati-fizierungskampagne gegen die Oppo­sition ficht, ist die Behauptung, das Berlin-Abkommen der vier Machte konne erst in Kraft treten, wenn die Vertrage von Moskau und Warschau ratifiziert seien. Nun spricht frei­lich das sowjetische Junktim zwi­schen Ratifizierung und Berlin-Ab­kommen sehr entschieden gegen den Wert des Viermachtevertrages, denn es beweist, daB die Sowjetunion die Einigung mit den drei anderen Machten, die an sich mit den Ab-kommen von Moskau und Warschau nichts zu tun haben sollte, als mani-pulierbares Druckmittel beniitzen will, also keineswegs als einen ob-jektiven Beitrag zur Befriedung Mit-teleuropas ansieht. Auch hat das Ab-kommen bis jetzt keinerlei Friichte getragen. Nicht ein einziger Pas-sierschein wurde auf Grund des Abkommens zugeteilt. Nur die Bon­ner Zugestandnisse sind in Kraft ge-treten. Aber ahgesehen von diesen mdglichen Einwanden lieBe sich in der Berlin-Frage ganz anders argu-mentieren, wenn sich die CDU/CSU nicht in der eigenen Falle gefangen hatte, wenn isie nicht selbst zwanzig Jahre lang alles nur Denkbare getan hatte, den Fall Berlin von der Ebene der niichternen Realpolitik auf das Postament eines Mythos zu heben. Die Rechnung werden eines Tages die Berliner bezahlen, denn selbst-verstandlich ist auch das Viermachte-abkommen nur ein Provisorium, und am Ende der 1945 begonnenen und jetzt neu angekurbelten Ent-wicklung kann nur die Einverlei-bung West-Berlins in die DDR stehen.

Das Ungliick begann damit, daB die Westmachte, die an der Erobe-rung Berlins nicht teilgenommen hatten, weil Eisenhowers lahme Stra-tegie den Sowjets ohne Not den Vor-tritt lieB, die aber den GroBteil von Sachsen, ganz Thuringen und einen Teil von Mecklenburg besetzt hatten, diese wertvollen Gebiete heraus-gaben, um dafur ein Besetzungs-recht fur etwa zwei Drittel von Grofi-Berlin einzutauschen.

Von nun an hatte eine sinnvolle Berlin-Politik des Westens immer wieder die Riickkehr zu dem ver-tragsmaBigen Zustand, also die Ver-einigung der vier Sektoren und die Herstellung rechtsstaatlicher und demokratischer Verhaltnisse in ganz GroB-Berlin fordern mussen. Wei-gerten sich die Sowjets, so war die Ruckgabe der verpfandeten sach-sisch-thuringischen Gebiete mit allem Nachdruck zu verlangen. Aber weder von Ost-Berlin noch von Thuringen war mehr die Rede.

Berlin verlassen?

Seit 1949 begann die Bundes-republik mitzuspielen. Zwar trugen die vier Machte die Verantwortung fur Berlin, zwar hatten sie in einer halbschlachtigen und daher gefahr-lichen Losung der Bundesrepublik erlaubt, West-Berlin als eine Art von Exklave des westdeutschen Staates zu behandeln, hatten sie anderseits darauf bestanden, daB die Berliner Abgeordneten im Bundes­tag nicht stimanberechtigt waren, aber die Bundesrepublik hatte zweifellos Vorschlage zur Losung des Berlin-Problems machen konnen, mit denen sie sowohl den Berlinern als auch den Schutzmachten gehol-fen hatte.

Man hat im Rahmen der Rati-fizierungsdebatte Adenauer vorge-worfen, er hatte fiir Zugestand­nisse, wie sie Brandt jetzt ohne jede Gegenleistung gemacht hat, von den Sowjets wahrscheinlich etwas einhandeln konnen. Man vergaB nur, hinzuzufugen, daB Adenauer, wenn er auch nur das geringste Zugestand-nis gemacht hatte, auf den erbitter-ten Widerstand der SPD und der mit ihr verbiindeten Massenmedien gestoBen ware und daB es zwar moglich ist, daB- Brandt seine Ver-zichtspolitik gegen die CDU/CSU mit drei Stimimen Mehrheit durchsetzt, daB jedoch Adenauer eine auch nur. annahernd ahnliche Verzichtspolitik gegen die weit schwachere SPD-Opposition sicher nicht durchgesetzt hatte.

Immerhin hatte die CDU/CSU alien Grund gehabt, sich gegen den

Mythos von der „Reichshauptstadt Berlin“ zu wehren. Es war der helle Wahnsinn, eine sozusagen in Fein-desland liegende, von dem Gebiet der DDR umgebene, obendrein ge-teilte Stadt als Hauptstadt zu rekla-mieren, dort Bundestagssitzungen abzuhalten, zentrale Dienststellen in die eingeschlossene Sta.dt zu ver-legen und sich an die Vorstellung zu klammern, man konne auf diese Weise einmal die „Wiedervereini-gung“ erreichen. Ware es nach der Partei des Herrn Scheel, die sich mit nationalliberal-romantischer Schwarmerei ,fur PreuBens Haupt­stadt besonders hervortat, gegan-gen, dann hatte man Bundesmini-sterien, vor allem ausgerechnet das Ministerium fur Post und Fern-meldewesen, in die Stadt verlegt, die stiindlich in Gefahr war, abgerie-gelt zu werden. Hatte man die Ber-lin-Schwarmerei wenigstens mit einer offensiven Berlin-Strategie verbunden, also unentwegt die Be-freiung Ost-Berlins gefordert, dann hatte das Gerede von der Reichs-hauptstadt noch einen Sinn gehabt, aber man lieB sich ja seit 1958, also seit Chruschtschows „Berlin-Ulti-matum“, immer mehr in die Defen­sive drangen. Damals hatte ein An-gebot an die Russen, „Internationa-lisierung Grofl-Berlins unter UN-Kontrolle“, vielleicht noch Aussicht auf Erfolg gehabt. Man feierte es als groBen Erfolg, daB Chruschtschow das Ultimatum zuriickzog (es war natiirlich niemals ernst gemeint), und lieB alles beim alten. Seit dem Mauerbau, der mit stillschweigender Zustimmung Kennedys erfolgt war, hatte man sich in Bonn sagen miis-sen, daB der Traum von der Reichs-hauptstadt nur noch eine Fieber-phantasie war. Es ware an der Zeit gewesen, den Amerikanern zu be-deuten, sie mdchten mit dem Kreml Fuhlung nehmen, ob nicht die Inter-nationalisierung West-Berlins mit alien ndtigen Garantien fiir die Ber­liner moglich ware. Aber jede real-politische Losung — noch immmer ware auch die Aufnabme von zwei Millionen Westberlinern in der Bundesrepublik moglich gewesen, in einem Staat, der mehr als eine Mil­lion Gastarbeiter beschaftigt und jahrlich Zehntausende von Riick-wanderern aufnirramt! — scheitert an dem groBen Tabu der gesamt-deutschen Romantik, an der Fiktion von der „aMen“ Reichshauptstadt, obgleich sie es doch in Wahrheit nur 74 Jahre lang war.

SchlieBlich hat sich das allzu redu-ziert auf ein an Fallen reiches Tran-sitabkommen und auf die vage Hoff-nung, einige hunderttausende Be-suchsscheine fiir die Westberliner zu bekommen. Eine groBe Nation steht — wie es der Austro-Amerikaner William S. Schlamm sehr scharf, aber treffend ausgedruckt hat — mit dem Hut in der. Hand an der Mauer und bettelt um Passierscheine, da­mit Tante Emma am Sonntagnach-mittag bei Cousine Minna in Ost-Berlin Kaffee trinken kann (den sie selbst mitbringen muB). Und mit diesem Bettelabkomimen kann die Bonner Linkskoalition die Unions-parteien unter Druck setzen! Die

CDU (von der klugeren, aber in ihrer Handlungsfreiiheit beschrankten CSU einmal zu schweigen) lieB sich, ge­gen alle warnenden Stimmen, von Brandt auf den Leim des Berlin-Ab-kommens locken, sie erbot sich selbst immer wieder, die Ostpolitik zu akzeptieren, wenn eine „befriedi-gende“ Berlin-Losung z-ustande-kame, wobei sie es auch noch Brandt iiberlieB, zu bestiramen, welche Lo­sung befriedigend sei, und sie unter-lieB es auch in dieser letzten Stunde, da Brandt bereits die DDR als zwei­ten deutschen Staat anerkannt hatte, die groBere Losung zu fordern, die Umwandlung Berlins in eine Stadt der UN, die Sitz wichtiger UN-Behorden werden und eine UN-Truppc als Besatziung erhalten miisse. Statt dessen wird sich die CDU mussen nachsagen lassen, sie sei schuld daran, daB Tante Emmas Kaffeeklatsch gefahrdet und damit die hochsten Giiter der Nation und die „menschlichen Zugestandnisse“ Breschnjews in Frage gestellt seien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung