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Mein Europa

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De Gaulle in Moskau. Das bedeu- tet: seit Poincare ist zum erstenmal seit mehr als einem halben Jahrhun- dert wieder ein franzdsisches Staats- oberhaupt zu Besuch in Rutland. Das bedeutet ferner, dajl der General offenbar den Zeitpunkt fur be- sonders giinstig halt, Rufiland wieder nach Europa zuriickzufiihren, das wiirde ferner bedeuten, dajl die starre Politik der Blbcke zu Ende ist — freilich nur dann, wenn das Konzept de Gaulles auch ernsthafte Chancen hat, realisiert zu werden. Dennoch herrscht heute noch weit- gehend Vnklarheit daruber, wie dieses europaische Konzept denn nun eigentlich aussieht. Lassen wir des- halb Charles de Gaulle selbst zu Wort kommen, der vor einiger Zeit in einem Fernsehinterview eine Kidrung der verwirrten Begriffe vorge- nommen hat.

„Da ich Franzose bin, bin ich Europaer. Da wir in Europa sind und da Frankreich immer ein wesent- licher, wenn nicht gar der Hauptbe- standteil Europas gewesen ist, bin ich naturlich Europaer. Sie wollen von rnir wissen, ob ich fur eine poli- tische Organisation Europas, das heiBt Westeuropas, bin. Wenn Sie die Erklarungen lesen, die ich seit Jiah- ren abgegeben habe, werden Sie merken, daB ich von Europa und ins- besonidere von der Gruppierung Westeuropas gesprochen habe, als noch niemand danan dachte, schon mitten im Kriege, denn ich glaiube in der Tat, daB es sich urn etwas UnerlaBliches handelt. Da wir Europaer nicht mehr mitetoander Krieg fuhren, da es zwischen Frankreich und Deutschland ke:ne Rivalitat mehr gibt und ein Krieg zwischen den europaischen Landern, zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Frankreich und Italien Oder zwischen den drei und England, un- vorstellbar geworden ist, ist es durchaus normal, daB sich zwischen ihnen eine Solidaritat herausarbei- tet.

Das ist Europa, und ich meine, daB diese Solidaritat onganisiert werden muB. Alber wie? Da muB man die Dinge nehmen. wie sie sind, denn Politik kann nur auf Realitaten aufgebaut werden. Naturlich kann man wie ein Zicklein auf einen Stuhl springen und rufen: ,Europa, Europa1, aber das fuhrt zu nichts. Wo sind die Realitaten? Es gibt ein Land Frankreich und ein Land Deutschland und ein Land Italien, ein Land Belgien, ein Land Holland, eiin Land Luxemburg und etwas weiter ein Land England, ein Land Spanien.

Diese Lander haben eine Geschichte, eine Sprache, eine Lebensweise und ihre Einwohner heiBen Franzosen, Deutsche usw.

Diese Lander muB man zusam- menfugen. Man muB sie daran ge- wohnen, zusaimmenzuleben und zu- samimen zu handeln. Ich erkenne an, daB dem Gemeinsamen Markt dabei eine wesentliche Rolle zukommt,

denn eine richtige Wirtschaftssolida- ritat ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Annaherung und des gemeinsamen Lebens.

Und auf poltischem Gebiet? Was konnen die europaischen Lander politisch gemeinsam tun? Da handelt es sich vor allern um Verteidigung und AuBenpolitik. Was die Verteidigung betrifft, wenn Westeuropa angegriffen werden sollte — und bis- her Oder wenigstens bis vor kurzem konnte man sich vorstellen, daB es vom Osten angegriffen werden wiirde, und das ist noch immer nicht ganz ausgeschlossen —, in diesem Fall gibt es eine Solidaritat zwischen den Sechs, und diese Solidaritat kann und soli organislert werden.

In der AuBenpolitik ist es viel schwerer. Man muB zugeben, daB die einen nicht dasselbe tun wie die an- deren und nicht in allern der glei- ohen Ansioht sind. Die Deutschen sehen sich, wie sie sind: das heiBt zwei- Oder sogar dreigeteilt (wenn man das Statut von Berlin ein- schlieBt) und mit einer bedeutenden Wirtschaftsmacht. Naturlich stellen sie Anspriiche. Sand diese notwen- digerweise auch die unsrigen? Die Englander haben an alien Ecken und Enden, in Afrikia mit Rhodesien, im Orient mit Aden, in Sudostaisien mit Malaya, viel zu tun. Sind ihre Schwierigkeiten notwendigerweise und gleichzeitig auch die unsenen? Es ist nicht leicht, die AuBenpolitik abzustimmen.

Ich habe ubrigens niemals vom ,Europa der Vaterlander' gesprochen. Jeder hat sein Vaterland. Wir haben das unsere, die Deutschen, die Englander das ihnige. Das ist eine Tat- sache. Ich habe aber von der Zusam- menarbeit der Staaten gesprochen, und diese enscheint mir unerlaBlich. Wir hatten versucht, diese Zusam- menarbeit zu organisieren, aber wir sind dabei gescheitert und seitdem wurde nichts mehr untemommen, auBer dem Vertnag, den wir, so un- wahrscheinlich er auch erscheinen mochte, nach allern, was wir erlebt hatten, mit Deutschland abgeschlos- sen haben, ein feierlicher Vertnag uber die Aussdhnung und die Zusammenarbeit. Es ist nicht viel daraus geworden, denn jeder Staat hat seine eigene Politik, und daran ist nichts zu andem.

Es gibt Leute, die nach einem supranationalen Europa schreien, die behaupten, es sei alles ganz einfach, man miisse nur alles zusammentun, Franzosen, Deutsche, Italiener, Englander usw. einfach verschmelzen. Das scheint eine sehr bequeme, viel- leicht sogar bestechende Losung, aber in Wirklichkeit ist es nur ein Phantasiegebilde, eine Chimare, der man nachjagt. Die Realitaten sind anders, und man kann mit ihnen nicht einfach so umspringen. Sie sind harte Taitsachen, die man beriicksich- tigen und in Betracht ziehen mufi. Wir haben es immer getan und tun es weiter. Wenn es uns gelingt, die EWG-Krise zu iiberwinden — und ich hoffe, daB es uns gelingen wild —, muB man auf den Plan zuriick- greifen, den wir 1961 vorgeschlagen hatten, der dann aber nicht verwirk- licht werden konnte, das heiBt, man muB die beginnende politische Zusammenarbeit zwischen den west- europaischen Staaten organisieren, und dann wird sehr wahrscheinlich fruher Oder spater auch England sich zu den Sechs gesellen, was ganz na- turlich ware. Aber dieses Europa wird dann nicht, wie man sagt, supranational sein. Es wird nicht anders sein, als es in Wirklichkeit ist. Es wind mit einer Zusammenarbeit be- ginnen, und vielleicht wird es spater, nachdem man sich an das Zusam- menwohnen gewohnt hat, zu einer Konfoderation kommen. Ich sehe ihr sehr gerne entgegen und ich halte sie nicht fur unimoglich."

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