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Voraussehbare Zukunft?

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Eben dies hat sich soeben begeben: Wahrend, anlaBlich des zwanzigsten Jahrestages der Hitler-Invasion in Rutland, Chruschtschow seine propagan- distische Invasion lautstark vorwarts- trieb, Amerikaner vom moglichen Krieg sprachen und ihre Truppen in Berlin zu einer kurzen Einsatziibung alarmierten, trafen einander in Wien ein Dutzend Manner aus Europa und rund dreitausend Horer zu dem vierten Europagesprach im Wiener Rathaus, das den schbnen und notwendigen Titel „Die voraussehbare Zukunft” trug.

Ist dies nicht ein Wahn? So mochten jene sagen, die so oft schon- schlechte Zukunft mitgeschaffen haben, da sie sich dem nuchternen Bedenken guter Zukunft verweigert hatten … Ist das nicht reine Ohnmacht, so mogen jene anderen meinen, die im Himmel nur Raketen und auf der Erde marsch- bereite Panzer und unter der Erde atombombensichere AbschuBrampen fur nukleare Waffen wahrnehmen … Das Wiener Europagesprach von 1961 im heiBen Juni konnte alle die, die es anging, darauf aufmerksam machen, dafi es im Himmel und auf Erden noch eine groBe Fiille anderer Wirklichkei- ten gibt, die uns alle angehen und die unsere Zukunft in schrecklichen und positiven Bezugen einsehbar macht; Realitaten, die ihre Wirkmaeht bezeu- gen, die weder von Chruschtschow noch von Kennedy ubersehen werden konnen, die aber hierzulande allzu- wenig Beachtung linden.

Die Nichtanwesenheit so vieler, die alien guten Grund gehabt hatten, den sehr ernst zu nehmenden Referaten und den recht heiBen Debatten beizu- wohnen, machte auf die schlechte Tatsache aufmerksam: unser offent- liches Klima in Osterreich ist zukunfts- imwillig, zukunftsscheu. „Man” stellt sich, im Selbstverzehr des eigenen Lebens, im Ausverkauf der Werte, die Zukunft der einen Welt am liebsten gar nicht vor, uberlaBt den Himmel den Spatzen, den Predigern und Sonn- tagsrednern, reiBt von der Erde kleine Stiicke an sich (so es die steigenden Preise fur Grundstiicke und Hausbau erlauben); der Friede erscheint als ein „fauler Friede”, ein „Kirchhofsfriede”, ein Propagandarummel der Kommu- riisten. Von der Zukunft spricht man am besten nicht. Am ehesten noch von der ..unsicheren”, „unberechenbaren” Zukunft. Auf keinen Fall von der „voraussehbaren Zukunft”: Ihre An- erkennung wurde namlich bedeuten: daB man anerkennt, wieviel wir alle hier in Europa und in Osterreich be- zahlen, ja opfern miissen, um d i e s e Zukunft zu gewinnen.

Als Leitfaden der Ariadne zog sich vom ersten Vortrag, dem des Direktors des Kieler Weltwirtschaftsinstitutes, Fritz Baade, bis zum letzten Referat von Lord Boyd Orr.dem weltbekann- ten britischen Fachmann fur Ernah- rungsfragen, die Erkenntnis durch: sehr viel Zukunft ist voraussehbar, ist be- rechenbar, ist erkennbar. Sehr. viel Zukunft wird heute von uns selbst berejts vorentschieden — vor allem durch das, was wir nicht geben, nicht tun, nicht leisten. Denn die Zukunft gehort einer Menschheit, deren aller- groBter Teil in Hunger und.Zorn war- tet, auf die Satten, die auf sie zukom- men: mit Worten, Waren und Waffen.

Professor Baade aus Kiel knupfte an die einleitenden Worte des oster- reichischen Bundesprasidenten an, der auf die Gefahrdung des Weltfriedens hinwies und auf die hinfallige alte Art, Zukunft deuten zu wollen aus den Sternen, aus Vogelflug, Tiergedarm und schlechter Wahrsagerei: Sehr viel von dem,was der Menschheit bis zum Jahre 2000 zur Verfugung steht, an Nahrungsmitteln, in der Energiewirt- schaft, in der Nutzung. der reichen Potentiale unserer Erde, laBt sich heute sehr genau berechnen und in Rechnung stellen. Eben, dieser Reich; turn berechenbarer, nutzbarer Giiter, die eine Menschheit von seeks Milliar-

den,von zwolf und mehr . Milliarden auf dieser Erde ernahren und versorgen konnen, macht auf die gebieterische Notwendigkeit aufmerksam, das Un- berechenbare zu bezwingen: den Krieg im Atomzeitalter. Baade, deutscher Professor, evangelischer Christ, sozial- demokratischer Politiker und Bundes-

Phofo: Archiv tagsabgeordneter, erschreckte und ver- drofi einige seiner aufmerksamen Zu- horer. links, rechts und. in der Mittte, als er seine Ausfuhrungen uber die Weltwirtschaft ausklingen lieB in einem Appell an die Christenheit, sich „aus der funfzehnhundertjahrigen babylonischen Gefangenschaft der Kirche” zu befreien, aus dem Bundnis mit den Waffen und den Machten dieser Welt.

„So geht es wirklich nicht”, mein- ten andere. Wie aber geht es wirklich? Wie geht es vor allem wirklich zu, in dieser Welt, heute, die sich ihre Zukunft wirkt, webt, verwirrt? Auf dieses zweite Problem machte eine ganze Reihe von Rednern aufmerksam, in recht erhellenden Ausfuhrungen uber die realen Krafteverhaltnisse in Europa und der anderen Welt, im Blick auf die Wirtschaft des Ostblockes (Thal- heim, Berlin), auf den Konkurrenz- kampf zwischen Ost und West. In die teilweise sehr heiBen Debatten, die auch vor der Behandlung heifier oster- reichischer Eisen nicht zuruckschreck- ten, entlud sich, wie ein befreiendes und reinigendes Gewitter, der Vortrag von Fritz Sternberg uber die Auf- gaben und das Versagen des Westens. Sternberg kommt vom klassischen Marxism us her. In ihm loht noch etwas vom Feuer der ersten Glut, vom Brand der grofien, roten Hoffnung, die im Osten in den Todesmiihlen des Sta- linismus zermalmt, im Westen im Konventikelwesen und Biirokratismus der wohletablierten sozialistischen Parteien verramscht wurde. Fritz Sternberg ist heute ein ebenso uner- bittlicher Kritiker des totalitaren Kommunismus wie eines ausgelaugten westlichen Sozialismus und Demokra- tismus. Es ist sehr schade, daB ihm bei diesem Europagesprach Partner von der anderen Seite fehlten: aufgeklarte Reprasentanten eines weltoffenen Kon- servatismus und eines selbstkritischen radikalen Sozialismus. Eben solche Manner waren nach Wien geladen worden, aus Spanien und Polen, konn- ten jedoch nicht kommen. Madrid, Warschau: kommt doch nach Wien! Wird beim funften Europagesprach ihre dringend notwen- dige Anwesenheit moglich sein … ?

Sternberg sagte unter anderem dies: Wenn wir uns in dem Jahrzehnt, das nun begonnen hat, nicht wesentlich anders verhalten als in den funfziger Jahren, dann brauchen wir uns um das Jahr 2000 gar keine Sorgen mehr zu machen. Dann haben wir unser Todes- urteil schon unterschrieben, Denn die Entwicklungslander mochten ihr Elend in vergangenen Jahrhunderten und noch Jahrzehnten still hinnehmen; sie werden dies nicht in der Zukunft tun, eine furchtbare soziale Explosion wird unvermeidlich sein. Die Hilfe des Westens fur die Entwicklungslander ist zwar finanziell viel reicher als die der kommunistischen Staaten; die So- wjetunion hilft aber nicht nur mit Geld, sondern vor alletn durch ihr Beispiel. Sie kann darauf hinweisen, daB sie noch vor kurzer Zeit ein Ent- wicklungsland mit achtzig Prozent Analphabeten und einer Idcherlich ge- ringen Stahlproduktion war. Bei uns im Westen spricht man gem und viel von unseren „Opfern” fur die Entwicklungslander. Niemand jedoch im Westen hat wirklich fiihlbare Opfer auf sich genommen. Selbst Amerika, das weit fiihrend an der Spitze der Hilfeleistenden steht, wendet nur e i n Prozent seines Volksaufkommens fur die Entwicklungslander auf, dagegen zehn Prozent fur Rustungszwecke, fur Waffen, die in diesem entscheidenden GroBkampf wenig taugen und rasch veralten. Andere Lander des Westens aber geben noch viel weniger fur Aus- landshilfe aus. Der auslandische Vor- tragende unterlieB es, als Gast, auf die „Opfer” Osterreichs aufmerksam zu machen …

Dringendste Forderung, um unser alter Zukunft willen: Die Ausgaben des Westens fur Entwicklungshilfe sind mindestens zu verdoppeln; man muB diesen Menschen nicht nur mit Geld und Waren, sondern durch Bildung, durch Menschen helfen.

Deri Menschen durch Menschen helfen: durch freie Menschen helfen.

Hier besteht ein entsetzliches Dilemma: Menschen im Dienst einer anderen Ideologic, eines weltimmanen- ten atheistischen Glaubens, ziehen aus, nach Afrika, Siidamerika, um die Volker der Erde zu gewinnen. Menschen in unserer „freien” Hemisphere schlie- Ben sich ein, sperren sich ab, sobaid sie nur davon sprechen horen: Eben von der „voraussehbaren Zukunft”. Die von uns Opfer verlangt. Guter Zukunftsglaube ist heute in alien Fraktionen unserer westlichen Welt rar, selten zu finden. Im Wiener Europagesprach 1961 verkorperte ihn eindrucksvoll, in jugendlichem Feuer, der achtzigjahrige Padagoge Schneider, der rheinische Katholik, uns durch seine Salzburger Lehrtatigkeit wohlbekannt. Schneider fordert, lehrt und lebt eine ,,prospektive Pad- agogik”: Eine Erziehung des Menschen, die der Zukunft zugewandt ist. Als ein Seminar fur eine solche prospektive Padagogik, eine Statte der Begegnung, hatte dieses Wiener Europagesprach fur die Politiker und andere Verantwortliche unseres Landes reiche Anregungen (und sogar noch etwas mehr) bieten konnen: wenn diese Manner gekommen waren.

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