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Unruhiger Sommer

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Zur Eigenart des gegenwartigen franzdsischen Regimes gehort nicht nur, daB es aus einem einzigen Manne besteht und hinter diesem Manne keine „Infrastruktur” von irgend- welcher Soliditat aufzuweisen hat. Es wird auch dadurch gekennzeichnet, daB es auf einen ganz bestimmten Zweck hin konstruiert wurde. Die Mehrheit des franzdsischen Volkes und seiner politischen Gruppierungen hat der Errichtung der ..legalen Diktatur” de Gaulles unter der Vor- aussetzung zugestimmt, daB dieser dem Algerienkrieg ein Ende machen solle.

Mit dem Zusammenbruch der Ver- handlungen von Evian ist nun aber das Ende dieses Krieges wieder in weite Ferne geruckt. Folgerichtig ist nun ein Teil von de Gaulles Mehrheit der Meinung, daB damit auch der mit dem „potentiellen Dik- tator” geschlossene stillschweigende Pakt hinfallig geworden sei. Drum sind zu den vom FLN auf der einen und von den Ultras auf der anderen Seite gespeisten Untergrundbewegun- gen gegen de Gaulle offene Oppo- sitionen gestofien, die sich bisher zu- ruckgehalten haben. Das Zusammen- spiel der beiden pragt das gegen- wartige politische Bild Frankreichs mit seinen StraBensperren, seinen Plastik- bomben und auch seinen Internierungs- lagern, in die der Burger ohne vor- heriges Urteil, auf blofien Ver- waltungsentscheid hin, auf un- beschrankte Zeit gesperrt werden kann. (Solche Lager gab es schon seit langerer Zeit fur Algerier; eines von ihnen, in Thol im Jura, ist nun jedoch mit franzdsischen Rechts- extremisten ..belegt” worden.)

Ein neuer Putsch?

Was in Frankreich vorgeht, ist dabei besser uberschaubar als die Vor- gange in Algerien, vor die sich ein dichter Zensurschirm gelegt hat. Es ist datum schwierig, auszumachen, was von den Geriichten zu halten ist, die jenseits des Meeres einen neuen Putsch von Offizieren und zivilen Ultras fur moglich halten. Immerhin laBt sich einiges aus dem offiziell ge- filterten Nachrichtenmaterial schlie- Ben. Beispielsweise stimmt es nach- denklich, daB zwei Monate nach dem Aprilputsch von den Generalen und Obersten, die im Gegensatz zu Challe und Zeller in den Untergrund gingen, bisher weder ihre Verhaftung noch ihre Anwesenheit irgendwo auBerhalb des franzdsischen Machtbereiches ge- meldet wurden.

Ebenso erstaunlich ist ein Dementi, das in dem neuen Pariser Wochenblatt ..Candide”, einem deutlich offizios inspirierten Organ, erschienen ist. Es wurde dort bestritten, daB der Heeres- minister 3000 Demissionen von Offizieren erhalten habe: „Gleich bei Ende des Putsches erhielten die Ein- heitskommandanten den Befehl, alle Demissionen zuriickzuweisen. Deshalb weifi weder der Oberkommandierende in Algerien noch der Minister, wieviel Demissionsschreiben sie hatten erhalten sollen.” Das deckt sich mit dem Eindruck, den man von den in den bisherigen Putschprozessen als Zeugen aussagenden Offizieren, insbesondere vom Oberst abwarts, gewann: daB namlich die iiberwiegende Mehrheit des franzdsischen Offizierskorps mit dem Herzen auf seiten der Putschisten war.

Dieser Trend diirfte sich unter dem EinfluB der letzten militarischen Ent- wicklungen in Algerien noch ver- starkt haben. Die gaullistische Politik hat sich hier als ein gefahrliches Pokerspiel erwiesen. Die Erklarung der ..einseitigen Waffenruhe” ware ein genialer Schachzug gewesen, wenn der FLN sich dadurch seinerseits zum Ein- stellen der Aktionen hatte bewegen lassen. Er hat jedoch im Gegenteil seine Attentate verstarkt, und als de

Gaulle dann die „einseitige Waffenruhe” gleichwohl aufrechterjuelt, scheint das in der besonderen Atmo- sphare Algeriens von der moham- medanischen Bevolkerung als ein Zeichen der Schwache Frankreichs auf- gefaBt worden zu sein. Auf jeden Fall miissen die sich haufenden Faile von Verrat algerischer Hiwis an ihren franzdsischen Kameraden und Vor- gesetzten doch wohl dahin ausgelegt werden, daB Algerier, die bisher auf die franzosische Karte setzten, sich bei der Gegenseite mit solchen Akten „zuruckzukaufen” suchen. Das ist Wasser auf die Muhle jener Offiziere, die es nicht nur moralisch, sondern auch politisch fur ein Verhangnis halten, wenn die Armee von ihrem Ver- sprechen abweicht, nie die zu ihr hal- tenden Algerier im Stiche zu lassen.

Algerien: ..paliistinensische Teilung”?

Als ein ahnliches Pokerspiel konnte sich auch die Politik einer ..palastinen-

Der bretonische Bauernkrieg

Die franzdsischen Bauern sind in Bewegung geraten, und den Piloten macht dabei die Bretagne. Das ist kein Zufall. Den besten Kommentar hat dazu der „Canard enchaine” geschrie- ben: „Man sollte die Bretonen, welche sich in Morlaix und anderswo un- angenehm bemerkbar machten, wirk- lich nicht mit vulgaren Fellaghas vom FLN verwechseln. Die Bretagne ist namlich wirklich franzosisch. Der Be- weis? Nun, ganz einfach die vollkom- mene Gleichgiiltigkeit, mit der die Staatsgewalt in Paris bisher diese Pro- vinz behandelt hat. Unsere Regierung beugt sich mit dem Mitgefiihl, das uns angeboren ist, uber das Schicksal der Unterentwickelten der ganzen Erde. Der franzosische Staatsschatz ist offen fur alle Lander der Ex-Com- munaute. Und eine Vorzugsstellung wird bereits dem Algerien von morgen bereitet, wenn es so gnadig sein wird, nicht in die Hand zu spucken, welche ihm die guten franzdsischen Milliarden iiberreichen soil. All das ist schon und gut. Aber leider gibt es in Frankreich selbst weite Landstriche, die von Unterentwickelten bewohnt sind, ganze Provinzen, die als Aschen- brodel behandelt werden… Kleirfe Gemeinden in der Bretagne, bei denen die Elektrizitat noch nicht eingefuhrt ist, mihsen mit den anderen Steuer- zahlern Staudamme in Innerafrika finanzieren: bretonische Stadte und Dorfer, die keine dieses Namens wur- dige Schulen besitzen, miissen zur Errichtung prachtiger Universitaten in Afrika beitragen. Kann man es da den Bretonen iibelnehmen, wenn ihnen mal der Kragen platzt?!”

DaB der „Canard” gar nicht iiber- treibt, laBt sich leicht mit einigen Zahlen belegen. Die Bretagne macht, obwohl jahrlich 20.000 Bretonen in die Industriezentren des iibrigen Frankreich auswandern miissen, immer noch ein Neuntel der Gesamtbevolke- rungszahl des Landes aus. Im Budget fur 1960 wurde ihr aber gerade noch ein Sechshundertstel der Industrie- investitionen zugebilligt. So bringt denn die Bretagne das in unseren Brei- ten erstaunliche Kunststuck fertig, heute weniger industrielle Arbeits- platze aufzuweisen als im Jahre 1901 (138.000 statt 201.000)1 Allein von 1950 bis 1954 sind in der Bretagne 62.000 solcher Arbeitsplatze ab- geschafft worden. Und das wohl- gemerkt in einem Lande, in dem sich die Automation noch gar nicht bemerkbar gemacht hat…

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