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Harte oder weidie Hand?

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Es dürfte kaum ein delikateres politisches Problem geben als das der „Säuberung“. Läßt man zuviel Milde walten, so weckt das im Gegner nur die Lust, es ein zweites Mal zu versuchen. So ging es de Gaulle mit den Ultras nach dem zweiten Putsch von Algier, dem vom Jänner I960. Greift man zu hart zu, so droht man damit den zersprengten Gegner wieder zu einem geschlossenen Haufen zusammenzuschweißen, dessen Reaktionen ebenfalls nicht abzusehen sind. Härte unmittelbar nach der Tat ist meist noch das wirksamste. Wäre General Challe gleich nach seiner Kapitulation an die Wand gestellt worden, so wäre de Gaulle damit wohl auf sehr wenig Widerspruch gestoßen. Nun aber ist die Aburteilung Challes und die ganze Säuberung überhaupt bereits zu einem lastenden politischen Problem geworden. Härte über einen zu langen Zeitraum hinweg droht zur Schikane zu werden; was als unmittelbares Zuschlägen selbstverständlich gewirkt hätte, wird bei seiner Umsetzung in komplizierte, justizförmige Vorgänge zu leicht zu einer Verwirrung der innenpolitischen Situation, die es doch gerade hätte klären sollen. Und diese Erfahrungen macht Frankreich heute doppelt, weil sein gegenwärtiges Regime selbst aus einem Putsch hervorgegangen ist und sein Chef vor einundzwanzig Jahren mit einem Akt des Ungehorsams in die Geschichte eintrat. Es war das gaullistische Blatt „Paris-Presse“, das die Situation in einer Karikatur am besten zusammenfaßte. Eine Frau liest dort verdutzt in ihrer Zeitung: „Die Säuberung geht weiter.“ Was ihr von ihrem Gatten mit überlegener Miene so erklärt wird: „Das sind die Säuberer von 1961, welche die Säuberer von 1958 säubern, die die Säuberer von 1945 gesäubert hatten, welche ihrerseits die Säuberer von 1941 gesäubert hatten, die nun hoffen, diejenigen von 1961 zu säubern…"

Welche Folgen die „epuration" für die Armee haben kann, ist bereits gesagt worden. Auf dem zivilen Sektor ist bisher das überraschendste Ergeh nis. daß die europäische Bevölkerung Algeriens nun nachträglich „in Fahrt“ gerät. Die Junta hatte ja, was bei Generälen nicht so überrascht, davor zurückgescheut, auf dem Temperament dieser so leicht entflammbaren Bevölkerung zu spielen. Ein „Putsch ä l’allemande“ ist dieses „Generalstabsunternehmen“ darum von einem Reporter mit Ortskenntnis genannt worden, und ein anderer überlieferte den Ausruf eines Halbstarken während des Putsches: „Das letztemal, unter La- gaillarde, war aber mehr Schuß drin“ Nun, nach einer Woche Säuberung, ist die europäische Bevölkerung der algerischen Städte in einem Erregungszustand, der die für die Ordnung Verantwortlichen Verzweiflungsausbrüche fürchten läßt. Jede Nacht steigert sich diese Bevölkerung tiefer in ihren Haß gegen die Polizei und die Truppen des „Kontingents" hinein, indem sie auf Pfannen und allen möglichen anderen Geräten stundenlang das „Kurz—kurz—kurz—lang—lang“ der „Algerie fran?aise“ ertönen läßt. Und dieses ohrenbetäubende Konzert wird nur zu oft von Wurfgeschossen auf die zwischen den Häusern umherziehenden Patrouillen begleitet, die schon manche Verletzte gekostet haben. Eine Million französischer Bürger fühlt sich vom Rest der Nation verraten — ein Zustand, der auf die Dauer gefährlicher werden kann als alle Offiziersverschwörungen und als die sagenhafte „Organisation der geheimen Armee“ (OAS), die nicht zu greifen ist.

Sperrstunde — Kerker

War das zu vermeiden? Die Ordnungskräfte konnten nicht darauf verzichten, in den Wohnungen der Europäer nach der Unzahl der während des Putsches an Zivilisten ausgegebenen Waffen (die in der Mehrzahl nicht freiwillig zurückgegeben wurden) zu suchen, wie auch nach den flüchtigen Offizieren. Aber man bekommt das Gefühl nicht los, daß in den Monaten seit dem Plebiszit vom 8. Jänner 1961 diese europäische Bevölkerung, die so lange um ihrer kolonisatorischen Tüchtigkeit willen gepriesen worden war, als bloßes Objekt administrativer Entscheidungen behandelt wurde. „Man muß mit den Leuten sprechen, si fühlen sich ja ganz verlassen“, sollen Kommandeure der Ordnungskräfte ausgerufen haben. Und man fragt sich, ob alle Maßnahmen dieser Tage wirklich notwendig waren.

Wer das bewegte Leben in den abendlichen Straßen mediterraner Städte kennt, begreift auch, weshalb eine auf 21 Uhr festgelegte Sperrstunde in der so früh in ihre Häuser gesperrten Bevölkerung das Gefühl wecken muß, in einem Kerker zu sein. Und dann sind in Algerien drüben auf Grund des Diktaturparagraphen Maßnahmen ergriffen worden, die selbst im Mutterland bei vielen gegenüber den Ultras ablehnend Eingestellten das dem Franzosen stets innewohnende Mißtrauen gegen die Übermacht des Staates geweckt haben: die Presse von Algier ist bis auf eine Ausnahme auf unbeschränkte Zeit verboten worden und der Advokatenorden von Algier wurde — ein in der Geschichte der französischen Justiz einzigartiger Vorgang — aufgelöst. Und was soll man zu der von Gendarmen überwachten Verfügung sagen, daß im Justizpalast dieser Stadt der Lift nur noch den Richtern, nicht mehr den Advokaten zugänglich ist? Nun, hier errang der gesunde Menschenverstand einen Sieg über die behördliche Schikane: Richter scheuten sich nicht, vor den verlegen zuschauenden Gendarmen Advokaten zu sich in den Lift zu bitten …

Das Unbehagen über diese allzusehr nach den Gewohnheiten des zentralistischen Verwaltungsstaates durchgeführten Sicherungsmaßnahmen ist aber nur Teil eines umfassenderen Mißbehagens. De Gaulle hatte die überwiegende Mehrheit der Nation hinter sich, als er während des Putsches zum Diktaturparagraphen Zuflucht nahm. Nun hat er jedoch durch den Informationsminister mitteilen lassen, daß dieser diktatorische Ausnahmezustand beibehalten werde, „bis die algerische Affäre auf dem Wege der Regelung sich befindet“. Das wird zu einem recht dehnbaren Zeitmaß — insbesondere wenn man bedenkt, wie lange Frankreich schon auf eine solche Regelung wartet.

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