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Traditionslosigkeit und europaische Krise

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Ztl den bedeutsamen kulturellen Ver- anstaltungen der letzten Zeit zahlte zwei- feilos die Diskussion iiber .Traditionslosigkeit und europaische Kulturkrise im „ Forum der Diskussdonen (Wien VI, AmerlingstraBe 6), die von hervorragen- den Personlichkeiten des wissensdiaftlidien Lebens bestritten wurde.

Professor Hugo H a n t s c h stellte einleitend fest, daB der Begriff .Tradition in seiner eigentlichsten Bedeutung von der katholischen Kirche bewahrt werde, wenn sie die Tradition von eben- so gnundsatzlicher Bedeutung wie die Heilige Schrift selbst bezeidme. Der Tra- ditionsbewais hat glaubenssichernde Kraft. Der weiter gefaBte Begriff Tradition bedeutet das gesdiichtlidie BewuBt- sean der Generationen, in dem sidi die Entwicklung organisdi vollzieJit. Tradition ist das innere Prinzip der Existenz einer jeden Gemeinsdiaft. Ihr Verlust macht den Menschen arm, verdrangt ihn in die isolierte Einsamkeit und Einode des Wurzellosen und verurteilt ihn zur Bedeutungslosigkeit und Wertlosigkeit in bezug auf die Gemeinschaft. Das driickt Karl Jaspers mit den Worten aus: .Wir Menschen sind zugleich Natur und Gesdiidite. Unsere Natur zeigt sich in der Vererbung, unsere Gesdiidite in der Tradition. Wir sind Menschen noch nidit durch Vererbung, sondern immer erst durch den Gehalt einer Tradition. In der Vererbung besitzt der Mensch etwas prak- tisch Unzerstorbares, in der Tradition etwas absolut Verlierbares. .Was ein Mensch ist, erfahrt er aus seiner Ge- sdiddite“, heiBt es bei Goethe, und Schopenhauer hat die enge Verbundenheit des Volkes mit dem Erlebnis seiner Ge- schidite so gedeutet: .Was dem Indivi- duum sein Gedachtnis, das ist dem Volk 6eine Geschichte." Der Verlust der Tradition bedeutet nicht weniger als die An- derung des Gesamtzustands eines Volkes. Er bedeutet, um wieder mit Jaspers zu sprechen. daB der atomisierte Mensch eine beliebige Masse ungesdiiditlidier Anhaufung von Leben wird. Aufgabe der Tradition ist Aufgabe seiner selbst. Veriest der Tradition ist nun aber leider pin ; der Kennzeichen des heutigen Europa. Es ist daher verstandlich, daB viele an Europa verzweifeln und ein Pessimismus an Boden gewinnt, der den .Untergang des Abendlandes“ vorauszu- sehen glaubt. Das Fondament der Tradition muB wiedergewonnen werden — die .christlidie Tradition . Dieses Lidit zu halten und zu erhalten, ist notwendig. Nicht die furchtbare Einsicht, daB wir unser ererbtes Kapital an Kulturgiitern aufgezehrt haben, sondem die Einsicht, daB wir diese noch immer vorhandene, aber zweifellos im Zerrinnen befindlidie Substanz hiiten, pflegen und zu unserem Heil wieder auffiillen miissen, kann unsere Hoffnungen beleben, unsere Zukunft sicherstellen, unser SelbstbewuBt- sein rechtfertigen und unserer Arbeit,

unserem Opfer raid Leid letzten und gliickverheiBenden Sinn geben.

Dozent Kurt Schubert versudite an dem Beispiel des modernen, ,ge- schichtskranken Judentums die gegenwartige Situation in Beziehung zu dem gestellten Thema zu bringen. Das Judentum wie auch die iibrige Welt leidet unter der Last der Geschichte, die beide am liebsten abwerfen wollten! Die historische Last aber ist eine Kon- stante, und je mehr man sie dialektisdi ablehnen oder gar negieren zu konnen vermeint, um so mehr befindet man sich unter ihrem Druck. Die Rebellion gegen die Gesdiichtswirklichkeit ist im Grunde eine Rebellion gegen die sidi aufdran- geiide Selbsterkenntnis. Das auBert sidi augenfallig in jenen ideologisdien Welt- anschauungen, deren Ziel es ist, das Ge- schiditsbild, wie es wirklich ist, durch hineininterpretierte neue Kategorien zu verfalschen. Man liest aus der Geschichte heraus, was man will. In alien modernen totalitaren ideologisdien Staatsformen wird die Geschiditsforsdiung parteipoli- tisdi kontrolliert, wirkliche Geschichts- erkenntnis wird Staatsverbrechen Nr. 1. Gesdiiditskrank zu sein ist also die ge- fahrlichste Krankheit, der ein Volks- korper ausgesetzt sein kann.

Das Judentum ist einerseits Zeiger am Barometer der Weltgesdiidite, von der geistigen Haltung des Judentums aus kann man bereditigte Schliisse auf die Geisteshaltung eines Zeitalters ziehen, andererseits ist es audi eine Kraft, die bestimmend und ausschlaggebend auf das Barometer einzuwirken imstande ist. Indem das Judentum aufhorte, seine Geschichte zu verstehen und ifn ihr zu leben, konnte es erst AnschluB finden an die Wedt, an die es sidi assimilierte. Das Abendland, das an seiner Geschichte und an seinem in der Tiefe christlidien We- sen AnstoB genommen hatte, verlangte audi vom Judentum, bevor es beredt war, es in seine Kreise aufzunehmen, als Be- dingung, daB es sidi selbst griindlich miB- verstehe. Die Gesdiiditskrankheit war vorher eine abendlandische, bevor sie zu einer jiiddsdien wurde. Die antisemiti- schen E%iwande gegen Israel basieren aber auf den wirklichen Einwanden, besser gesagt auf den Einwanden, die die Wirklidikeit Israels ernst nehmen; die Wirklichkeit eines Israel, das alien profanen Volkem zum Trotz kraft des Bundes, dessen es Gott gewiirdigt hatte, den Glauben an den nur einen, einzigen und unsichtbaren Gott aufrechterhalt und von dem ein .Rest bis zur Parusie Christi am Ende der Tage erhalten blei- ben muB.

Armand Jacob, Chefredakteur des vom franzosisdien Informationsdienst in Osterreidi herausgegebenen Wodien- berichtes „Geistiges Frankreich , fuhrte aus, daB in Frankreich das Problem der Tradition in einem anderen Licht er- scheine. In Frankreich gebe es mehrere

Traditionen, die unter zwei Hauptkate- gorien fallen. Diese zwei Traditionen seien Traditionsgebundenheit und die Tradition der Kritik an dieser Tradition. Diese Traditionen befinden sidi in einem standigen Nebeneinander und in einer standigen Ablosung, daraus entstand im Dialog eine dritte Tradition, die sidi in der Anerkennung des rpensch- lichen Wertes im Gegner iiber alle Ver- schiedenheit der Weltanschauung mani- festiert. Von Bedeutung sei — was wenige wissen —, daB es bereits eine modeme Kultur gibt, die auf dem Wege ist, alle Traditionen der Menschheit neu zu erschlieBen. Wir sind heute Erben der ganzen Menschheit, nidit nur des griediisch-christlichen Kompromisses, das als einzige Tradition gegolten hat. Erben der Japaner (es sei nur an Manet, van Gogh, Lautrec erinnert), Erben der Agyp- ter und archaistischen Griechen (Maillol, Wotruba), Erben der Neger und Steppen- nomaden, der Vorgeschichte und der Azteken. Diese Traditionen werden in uns wieder lebendig und schopferisch. Der Krise der Tradition ist eine Renaissance der Traditionen entgegenzusetzen, ihre Vielheiten sind zu entdecken und zu zeigen, daB sie fiir den Menschen zeu- gen. Voraussetzung dazu ist die Erkennt- nis, daB die Traditionen relativ sind, daB aber eines nicht relativ und provisorisdi ist: der Mensch.

Herr B. E. S w i n g 1 e r, Pressereferent und wissenschaftlicher Referent im Wiener .British Council , bezeichnete die Krise der Gegenwart als eine mora- lische, die eine Folge des Bruchs und des Zusammenbruchs der traditionellen ethi- schen Systeme sei. Die Laissez-faire- Wirtsdiaftstheorie des 19. Jahrhunderts unterstiitzte den Glauben, daB der Mensch, der seine eigenen Interessen fordert, gleidizeitig die der Gemeinschaft fordere. Diesex okonomische und politisdie Drang des 19. Jahrhunderts ist er- schopft. Das Versagen der gegenwarti- gen Gesellschaft ist darauf zuriickzu- fiihren, daB sie ihre moralischen Energien nicht zweckmaBig verwendet hat. Das zeigt sich unter anderem besonders deut- lich darin, daB man nicht fiir mehr Frei- heit, sondern fiir mehr Fuhrertum pla- diere. Den Hohepunkt dieser Krise stellt die Fiktion dar, daB der Krieg dieser

Gesellschaft das geben werde, was sie braucht, die richtige und notwendige Solidaritat. Neben der Kriegsidee gibt es in der Welt nur mehr zwei Ideen von Bedeutung, das Christentum und den Kommunismus. Das Alarmzeidien des gegenwartigen gesellschaftlichen Verfalls

— besonders des westlichen — ist das Fehlen einer Religion. Es darf in diesem Zusammenhang nicht iibersehen werden, daB selbst die .materialistische Religion in RuBland, die in der Anbetung Stalins gipfelt, dem Volke Starke gibtl Es ist ein Fehler, an den .Fortschritt zu glauben und die Gegenwart der Zukunft aufzu- opfem. Es darf aber auch nicht die Ver- gangenheit zerstort werden, um eine Basis fiir die .gegenwartige Gesellschaft zu bekommen.

AbschlieBend soli noch vermerkt werden, daB der Ledter des .Forums und Initiator auch dieser Veranstaltung, Dipl.- Bibliothekar F. S. Vetter, einen kur- zen, aber exakten AufriB der traditions- rftiflosenden geistigen Tendenzen, etwa seit Spenglers .Untergang des Abend- landes" bis zur jiingsten Gegenwart, ver- mittelte und dadurch jene Basis und Atmosphare schuf, die diese fruchtbare und konstruktive Ausspradie ermog- lidite.

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