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SPAZIERGANG IN PRAG

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Ewald Tragy geht neben seinem Vater am „Graben“. Man mufi wissen, daB es Sonntagmittag ist und Korso. Die Kleider veiraten die Jahreszeit: so Anfang September, abgetragener, miihseliger Sommer. Fiir manche Toiletten war es nicht einmal der erste. Zum Beispiel fiir die modegriine der Frau von Ronay und dann fiir die von Frau Wanka, blau Foulatd; wenn die ein wenig tiberarbeitet und aufgefrischt wird, denkt der junge Tragy. halt sie gewifi noch ein Jahr‘ aus. Dann kommt ein junges Mad- chen und lachelt. Sie tragt blaBrosa Crepe de Chine — aber geputzte Handschuhe. Die Herren hinter ihr schwimmen alle durch lauter Benzin. Und Tragy verachtet sie. Er verachtet iiberhaupt alle diese Leute. Aber er griifit sehr hoflich mit etwas altmodisch betohter Artigkeit.

Nur wenn sein Vater dankt oder gruBt — allerdings. Er hat keine Bekannten fiir sich Um so ofter mufi er den Hut mit abnehmen; denn sein Vater ist vornehm, geachtet, eine so- genannte Personlichkeit. Er sieht sehr aristokratisch aus, und junge Offiziere und Beamte sind fast stolz, wenn sie ihn be- gruBen durfen. Der alte Herr sagt dann mitten aus einer langen Schweigsamkeit heraus: ,,Ja" und dankt groBmiitig. Dieses laute „Ja“ hat den Irrtum verbreiten helfen daB der Herr Inspektor mit seinem Sohn mitten im Durcheinander des Sonntagskorso t;efe und bdeutsamGgsprache;te .und daB eine seltene

Mit den Ge- “’SSSgtHderr vWTiysTOa®wfro1W:*tfamit gleichsam die ideale Frage, welche in einem ergebenen GruB sich auspragt und etwa lautet: „Bin ich nicht artig?" „Ja". sagt der Herr Inspektor und das ist. wie eine Absolution.

Manchmal nimmt Tragy. der Sohn, dieses ,,Ja" wirklich fest und hangt rasch die Frage daran: ,.Wer war das. Papa?" Und dann steht das arme „Ja“ mit der Frage dahinter, wie eine Lokomotive mit vier Waggons auf falschem Geleise. und kann nicht vor und nicht zuriick.

Herr von Tragy. der Altere. sieht sich um nach dem letzten GruB, hat gar keine Ahnung, wer das gewesen sein konnte, denkt aber doch drei Schritte lang nach und sagt dann zum Erbarmen hilflos: „Jaaa?“

Gelegentlich fiigt er hinzu: ,,Dein Hut ist wirklich ganz staubig. “ „So". meint der junge Mensch gottergeben.

Und sie sind beide einen Augenblick traurig.

Nach zehn Schiitten ist die Vorstellung des staubigen Hutes in den Gedanken von Vater und Sohn abnorm gewachsen.

,,Alle Leute schauen her. es ist ein Skandal", denkt der Altere, und der junge Mensch strengt sich an, sich zu erinnern, wie denn der ungliickselige Hut etwa aussieht und wo der Staub sitzen mag. An der Krempe, fallt ihm ein. und er denkt: ,.Man kann ja nie dazu. Es miiBte eine Burste erfunden werden . . "

Da sieht er seinen Hut kBrperhaft vor sich. Er ist entsetzt: Herr von Tragy hat ihm den Hut einfach vom Kopf gehoben und knipst aufmerksam mit den rotbehandschuhten Fingern druber hin. Ewald sieht eine Weile barhaupt zu. Dann reifit er mit einem emporten Griff das schmachvolle Ding aus den behutsamen Handen des alten Herrn und stiilpt den Filz wild und ungestiim fiber Als ob seine Haare in Flammen stunden:

„Aber Papa", und er will noch sagen:

„Ich bin achtzehn Jahre alt geworden — dazu also. DaB du mir hier den Hut vom Kopf nimmst — am Sonntag mittag, Unter alien Leuten."

Aber er bringt nicht ein Wort heraus und wiirgt etwas. Ge- demiitigt ist er. klein, wie in ausgewachsenen Kleidern.

Und der Herr Inspektor geht auf einmal fern driiben am anderen Rande des Burgersteigs. steif und feierlich. Er kennt keinen Sohn Und der ganze Sonntag , flvtet zwischen ihnen Allein es ist nicht einer in der Menge der nicht wuBte. daB die beiden zusamtnengehoren. und. feder bedauert den riick- sichtslosen und brutalen Zufall, det sie so weit voneinander- schob.. Man weicht einandgr voll Teihjahtne und Verstandnis aus und iSt erst befriedigt. als man den Vater und den Sohn wieder nebeneinander sieht Man konstatiert gelegentlich eine gewisse zunehmende Ahnlichkeit im Gang und in den Gesten der beiden und freut sich daruber Friiher war der junge Mensch namlich aufierhalb des Hauses, man sagt. in der Mijitarerzie- hung. Von dort kam er eines Tages - wer weiB weshalb - sehr entfremdet zuriick. Jetzt aber: ,,Bitte, sehen Sie". sagt ein gut- mutiger alter Herr, der von dem Inspektor eben ein ,,Ja“ ge- schenkt bekommen hat. ,,er tragt schon den Kopf ein wenig nach links - wie der Vater -" und der alte Herr strahlt vor Vergnugen uber diese Entdeckung.

Aus dew Band 680 der licel-BUcherei. Rainer Marta Rilke; Ewald Tragy, eine Erzahlung.

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