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Bilanz der Ara Chruschtschow

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BILANZ DER ARA CHRUSCHTSCHOW. Herausgegeben von Erik Boettcher, Hans- Joachim Lieber und Boris Meissner. W.-Kohlhammer-Verlag, Stuttgart-Berlin-Koln- Mainz. 391 Seiten. Freis 38 DM.

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BILANZ DER ARA CHRUSCHTSCHOW. Herausgegeben von Erik Boettcher, Hans- Joachim Lieber und Boris Meissner. W.-Kohlhammer-Verlag, Stuttgart-Berlin-Koln- Mainz. 391 Seiten. Freis 38 DM.

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Die Anderung der AuBenpolitik der Vereinigten Staaten, GroBbritan- niens und neuestens auch Frank- reichs gegeniiiber der Sowjetunion nach Stalins Tod hat eine Anderung der ins Uferlose gehenden poli- tischen, wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Literatur uber die Sowjetunion in den USA, GroBbritannien und Frankreich her- beigeffihrt. In deren Gefolge zieht auch die deutsche Sowjetologie und Osteuropakunde nach; sie tut es spat und anscheinend nicht gem. Die bequemen Ansatzpunkte der SchwarzweiBmalerei im kalten Krieg gelten nicht mehr, stellt einer der Herausgeber, Professor Lieber, fest: „Die an den politischen und gesellsihaftlichen Realitaten der Stalinara vomehmlich orientierte Deutung der Sowjetideologie als eines puren, aber geseilschaftlich unmittelbar wirksam werdenden Instruments der Manipulation und Rechtfertigung in den Handen der politisch Herrschenden ist nicht mehr ohne weiteres durchzuhalten" (Seite 241). Wer will aber eine offen- sichtlich falsche Deutung um jeden Preis „durchhalten“? Doch wohl eher westliche Politiker des kalten Krie- ges als Wissenschaftler, die „unver- besserlich biirgerlich objektiv" (Seite 272) sein wollen. Diesen unentwegten kalten Kriegem halt Professor Lieber nun vor, daB die bisherige Deutung nur um den Preis „durchge- halten" werden konne, „daB man sich die Einsicht in das, was in der Sowjetunion faktisch in Gesellschaft und Gesellschaftstheorie geschieht, bewuBt verbaut" (Seite 241).

Das vorliegende Sammelwerk be- steht aus 21 iiberarbeiiteten Beitra- gen zu einer Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft fiir Osteuropakunde (April 1964); zehn da- von sind den Veranderungen in Gesellschaft und Staat, elf der Entwicklung in den verschiedenen Wis- senschaften in der Sowjetunion seit 1954 gewidmet.

Mit Veranderungen in der Wirt- schaft beschaftigen sich Rolf Krengel und Karl Thaliheim, mit der Agrar- politik Karl Ernst Schenk. Boris MeiBner, der dritte Herausgeber, liefert eine gediegene Untersuchung fiber „Wandlungen im Herrschafts- system uind Verfassungsrecht", Andreas Bilinsky eine solche fiber die Wirtschaftsverfassung. wahrend Klaus Westen sich mit Rechtsformen nach dem Tode Stalins beschaftigt, Wolfgang Meckelein mit Wandlun- gen im landlichen und stadtischen Siedlungsbild der Sowjetunion. Am schwachsten sind die „Intemationa- len Beziehungen" vertreten; Alexander Uschakow untersucht die „Rechtsbezieh-ingen der Sowjetunion zu den Ostbloddandem", Curt Gasteyger ..Strategic und Ab- riistungspolitik". Hier ist — offen- bar um der Politik der Bundesrepu- blik Deutschland „wissenschaftlich“ nicht vorzugreifen — etwas zuviel „ausgeklammert“; das ist fiir die Deutschlandpolitik der Sowjetunion noch verstandlich, aber auch die ganze iibrige AuBenpolitik der Ara Chruschtschow bleibt unberiicksich- tigt: Osterreichvertrag, Sues- und

Kubakrise, Politik im Nahen und Fernen Osten, Indien, Afrika.

Gute Ubersichten bringen die Bei- trage fiber die Einzelwissenschaften in der Sowjetunion: Okonomische Theorie von Hans Raupach, Philosophic von Helmut Fleischer, Soziolo- gie von Peter Christian Ludz und Rene Ahlberg, Kybernetik von Helmuth Dahm, Naturwissenschaft von Arnold Buchholz, Relativitatstheorie von Siegfried Muller-Markus, geo- graphische Wissenschaften von Herbert Schlenger und Adolf Karger, Geschichtswissenschaften von Walter Leitsch.

Die Verfasser sind durchwegs be- miiht, nach dem Tauwetter am Som- merfeil des russisch-sowjetischen Baren manch gutes Haar zu flnden. Kaum einer aber wagt die herz- hafte Assertion, daB die Entwicklung in der Sowjetunion seit Stalins Tod trotz der Absetzung Chruschtschows irreversibel ist; von dieser durch die bisherige Entwicklung nicht wider- legten Annahme gingen die pragma- tischen osterreichischen Politiker und ihre beamteten Berater schon 1954/55 ohne jede Hilfe der westlichen Sowjetologie aus. Diese Zag- haftigkeit ist um so verwunderlicher, als De Gaulle und ihm folgend kiirz- lich auch Adenauer — allerdings erst nach seinem Riicktritt — der Sowjetunion zumindest deren Friedfertig- keit bestatigt haben.

Erik Boettcher faBt in seiner Ein- fiihrung „Wandel und Kontinuitat des sowjetischen Systems" Anliegen und Ergebnis des Sammelwerkes da- hin zusammen, daB nicht „ein ab- schlieBendes Wort dariiber gesprochen wird, was Chruschtschow richtig getan hat und worm er irrte, wo er zu wenig tat und worin er das Ziel fiberspannte" ... Es wird ledig- lich diskutiert, was sich faktisch und auf welchen Gebieten in der Sowjetunion geandert hat, als Chru- sch'tschow noch der Erste Mann in Partei und Staat war. Und da wird man wohl mit Fug und Recht be- haupten konnen, dafi sehr vieles anders wurde und daB er in erheb- lichem MaBe zur Wandlung beige- tragen hat. Geschickt nutzte er zu- nachst die gesellschaftlichen Stro- mungen der Nach-Stalin-Zeiit zum Ausbau seiner Position aus. Sicherlich verfiigte er fiber groBe Fahigkeiten, Stromungen und Situationen rasch zu erfassen, eine Antwort darauf parat zu haben und auf Antworten Taten folgen zu lassen, manchmal mit Sachkenntnis und Verantwortungs- bewufitsein, dann wieder vorschnell und emotional. Die Veranderungen, die wahrend seines Aufstieges ab 1953 und seiner Herrschaft in der Sowjetunion vor sich gingen, sind erstaunlich. Sie betreffen fast alle Lebensgebiete" (Seite 7).

Diese Veranderungen auf einzelnen Lebensgebieten zu erfassen, sind die Beitrage des Sammelwerkes ehrlich bemuht; es sei daher als ein erster Versuch von bundesdeutscher Seite, den neuen Entwicklungen in der Sowjetunion gerecht werden zu wollen, aufrichtig begriiBt.

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