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Drei deutsche Staaten?

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Aus der Überlegung heraus, daß den West-Berliner Behörden die menschlichen Probleme der Mauer näher liegen als der Bonner Regierung, begann man daher vom Ostblock die These von den drei deutschen Staaten (Westdeutschland, DDR, West-Berlin) zu entwickeln. Während es für Bonn verhältnismäßig einfach ist, in dieser Frage einen harten Kurs zu steuern, steht der Regierende Berliner Bürgermeister Willy Brandt unter dem Druck aller durch die Mauer von ihren Angehörigen getrennten Berlinern. Während man in Bonn jeden Schritt der Ost-Berliner Regierung nur danach prüft, inwiefern er zu einer Anerkennung des Zonenregimes führen könnte, ist Brandt gezwungen, sowohl diesen Gesichtspunkt zu berücksichtigen, wie darauf zu achten, ob sich nicht vielleicht doch aus solchen Fühlern die Chance ergeben könnte, den Getrennten Erleichterungen zu verschaffen. Als ihm von Chruschtschow anläßlich seines Berlinbesuches 1963 ein gemeinsames Treffen vorgeschlagen wurde, mußte Brandt, von Bonn und dem Stellvertretenden Berliner Bürgermeister Amrehn (CDU) gezwungen, die bereits verabredete Unterredung wieder absagen. Die spektakuläre Niederlage der CDU bei den kurz darauf stattfindenden Senatswahlen — sie verlor fast ein Drittel ihrer Wähler in West-Berlin —, bewies Brandt, daß seine Ansicht,man dürfe nichts unversucht lassen, was den Berlinern Erleichterungen verschaffen könnte, richtig war.

Als der ostdeutsche stellvertretende Ministerpräsident Abusch am 5. Dezember überraschend das schriftliche Angebot machte, West-Berlinern während der Feiertage den Besuch ihrer Angehörigen in Ost-Berlin zu gestatten, war für Brandt die Stunde gekommen, seine während des Chruschtschow-Besuchs gemachten Erfahrungen zu verwerten. Die Lage war für ihn insofern günstiger, als mit Ludwig Erhard ein sehr viel beweglicherer Mann in das Bundeskanzleramt eingezogen war. Besonders günstig wirkte sich auch der Wechsel im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen aus, das nun der Vorsitzende der FDP, Erich Mende, verwaltet. Mende erspähte rasch die Chancen, durch das Passierscheinangebot für sich und für die FDP an Ansehen zu gewinnen. Da die FDP die CDU in der Berliner Regierungskoalition abgelöst hat, war der doppelte Anlaß gegeben.der Mende um so gelegener kam, als es der FDP unter dem neuen Bundeskanzler immer schwerer fällt, neben der CDU eigenes Profil zu behalten.

Zwei Ost-Berliner Bedingungen stellten Brandt und die Bundesregierung vor eine schwere Entscheidung. Die eine betraf ostzonale Passierscheinstellen in West-Berlin, was eine Praktizierung sowjetzonaler Hoheitsansprüche auf West-Berliner Gebiet bedeutet hätte. Die andere ging auf direkte Verhandlungen zwischen der ostzonalen Regierung mit dem West-Berliner Senat und damit auf die indirekte Anerkennung der ostdeutschen Dreistaatentheorie aus. Beide Klippen wurden umschifft. Die erste, indem man die Ausgabe der Passierscheine ostzonalen Postbeamten übertrug. Die andere, indem man eine Formel fand, in der jede Anerkennung der Dreistaatentheorie vermieden wurde. Sie lautete: „Beide Seiten stellen fest, daß eine Einigung für gemeinsame Ortsbehörden und Amtsbezeichnungen nicht erzielt werden konnte.“ Dieses Ergebnis war der Erfolg der überaus geschickten Verhandlungsführung des jungen West-Beriiner Senatsrates Horst Korber.

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