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In Berlin nichts Neues

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Der erste Monat des neuen Jahres ist im Zeichen eines leichten Nachlassens der Spannung um Berlin gestanden. Sowohl die Sowjetunion als auch die Vereinigten Staaten scheinen entschlossen zu sein, es nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Dieser Eindruck entstand nicht nur durch die Gespräche des amerikanischen Botschafters Thompson mit Gromyko, sondern auch durch den Austausch von Neujahrsbotschaften zwischen Kennedy und Chruschtschow und deren gleichzeitige und bewußt herausgestrichene Veröffentlichung. Der Austausch dieser Botschaften hat eine gemeinsame Verantwortung der zwei

Weltmächte für die Erhaltung des Weltfriedens in den Vordergrund gerückt — eine neue Nuance der Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion, die verdient, aufmerksam registriert zu werden.

Dieses beiderseitige leichte Abrücken von extremen Kampfstellungen darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es für den Osten weitaus leichter ist, Langmut walten zu lassen. Sein Zuwarten steht im Zeichen einer vollendeten Tatsache, welche die östliche Position sehr gestärkt hat: Das ist die Mauer und deren widerstandslose Hinnahme seitens des Westens. Man täuscht sich nur selbst, wenn man glaubt, daß der 13. August und die darauf folgende Passivität der Westmächte keine Vertrauenskrise in West-Berlin hervorgerufen hat. Wenn in letzter Zeit westliche Stimmen meinten, alles müsse vermieden werden, um eine solche Vertrauenskrise auszulösen, dann muß man leider sagen, daß diese Krise da ist, und zwar seit dem 13. August, oder vielmehr, seit den unmittelbar darauffolgenden Tagen, in denen nichts geschah. Eine West-Berliner Stimme hat die Reaktion darauf so formuliert: Wenn es vor dem 13. August hieß „Wir bleiben da“, so heißt es jetzt ..Wir bleiben noch da.“ Der Westen hat aber nichts unternommen, um etwa von den West-Berlinern zu hören: „Jetzt blieben sie erst recht da.“

Was bedeutet der „Status quo“?

Die weitere Entwicklung der Berlin-Krise wird weitgehend davon abhängen, wie der „Status quo“ in Berlin gedeutet werden wird. Die Aufrechterhaltung des „Status quo“ ist ein Begriff, der Stabilität und Frieden in der Weltpolitik verheißen soll, ein Begriff überdies, dessen Bedeutung eindeutig festzustehen scheint. Dennoch, in Berlin löst sich der Begriff des „Status quo“ in ein schillerndes Bündel von verschiedenartigen Alternativen auf. In einer Stadt, in der ständig neue vollendete Tatsachen geschaffen werden, hat der Ratschlag „es soll alles beim alten bleiben“, „quieta non movere“, keinen Sinn. Was heißt denn das, „Status quo“? Mit der Mauer oder ohne die Mauer?

Berlin liefert den Anschauungsunterricht für eines der am wenigsten verstandenen und doch grundlegenden Elemente jeder kommunistischen Politik: für die kommunistische Auffassung vom „Status quo“ als etwas, was nicht festliegt, sondern eine „bewegliche Einrichtung“ ist, wie es Fritz Erler, der außenpolitische Experte der deutschen Sozialdemokratie, unlängst ausgedrückt hat. Was bedeutet das? Die Antwort darauf hat niemand geringerer als Chruschtschow selbst in einem Interview, das er dem amerikanischen Publizisten Walter Lippmann gewährte, erteilt. Nach Chruschtschows Ansicht, so berichtete Walter Lippmann vor drei Jahren, „bedeutet die gegenwärtig in Rußland, China sowie in Asien und Afrika in der Entwicklung befindliche soziale und wirtschaftliche Revolution den ,Status quo', und er möchte, daß wir diesen so anerkennen. Nach seiner (Chruschtschows) Ansicht ist die Auflehnung gegen diese Revolution ein Versuch, den .Status quo' zu ändern. Während wir mit dem .Status quo' die Situation bezeichnen, wie sie gegenwärtig ist, deutet er ihn als den Fortgang sich entwickelnder und revolutionärer Änderungen. Er möchte, daß wir die Revolution nicht nur in dem Stadium anerkennen, in dem sie sich jetzt befindet, sondern auch in dem Stadium, in dem sie einst sein wird1).“

Es handelt sich also um eine im eigentlichen Sinn des Wortes dynamische Auffassung vom „Status quo“, die wohl unserem Sprachgebrauch und auch dem Sinn dieser Worte widerspricht, dafür aber die tiefgehenden historischen Wurzeln des Marxismus-Leninismus klarlegt. Lenin selbst hat 1921 erklärt: „Der .Status quo' ist der Übergang vom Alten zum Neuen.“ x) Zitiert aus Walter Lippmanns Buch „The Communist World and Ours“, 1958, S. 13, bei W. Grewe, „Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit“, 1960, S. 257.

2) P. A. Steiniger in „Deutsche Außenpolitik“, Ost-Berlin, Nr. 11, November 1961, S. 1308.

') „Europa-Archiv“, Nr. 22/1961, S. 637.

(Aus einem Interview mit einem Korrespondenten des englischen „Daily Express“.) Das kommunistische Programm einer „Freien Stadt West-Berlin“ fügt sich folgerichtig in diesen Gedankengang: Dies wäre eine Stufe, eine Etappe auf dem Weg vom Alten (West-Berlin unter westlich-alliierter Hoheit bzw. als Teil der Bundesrepublik) zum Neuen. Die DDR erhebt ja heute bereits den Anspruch, West-Berlin gehöre de jure zum Gebietsbestand der DDR, und „Grundvoraussetzung“ der Errichtung einer „Freien Stadt West-Berlin“ sei „ein ausschließlicher Hoheitsakt der DDR, nämlich die auf der Bestätigung des Status beruhende Überlassung der Ausübung ihrer Souveränität an die entmilitarisierte Freie Stadt“)“.

Im Zuge einer solchen dynamischen Interpretation des „Status quo“ hat es der Osten auch verstanden, Ost-Berlin schrittweise aus den Diskussionen und Verhandlungsangeboten um Berlin herauszuschälen: Man schlägt bloß eine „Freie Stadt West-Berlin“ vor, man anerkennt provisorisch einen Viermächtestatus für West-Berlin, gewissermaßen eine verkleinerte, um Ost-Berlin gekürzte Fassung des ursprünglich für Groß-Berlin ausgearbeiteten Viermächtestatus; aber Ost-Berlin ist längst „das demokratische Berlin“ und „die Hauptstadt der DDR“. Verhandlungen über Ost-Berlin, über Groß-Berlin? Davon ist in den Vorschlägen, die aus dem Osten kommen, nichts, in den Vorschlägen des Westens kaum etwas zu hören. Für den Vorsprung des Ostens ist es kennzeichnend, daß Ost-Berlin im Gesamtbild eigentlich nicht mehr aufscheint. Es ist eines der wirklichen Schwächezeichen des Westens, daß der Eindruck entstehen konnte, Ost-Berlin sei selbst für Verhandlungszwecke bereits abgeschrieben, es handle sich überhaupt nicht mehr um Berlin als Ganzes, sondern lediglich um West-Berlin.

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