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Berlin in Wien

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Die Berliner Woche in Wien verdient alle politische und kulturelle Beachtung, die ihr zukommt.

Am 6. September 1826 hält Franz Grillparzer in seinen Erinnerungsblättern in Berlin fest:

„Diese Stadt gefällt mir immer besser, je länger ich mich darin aufhalte; das ist schon ein gutes Zeichen. Wien dürfte auf manchen leicht die entgegengesetzte Wirkung hervorbringen. Alles hat hier einen Anstrich von Großartigkeit, Geistigkeit und Liberalität, der einem armen Teufel von Östreicher schon des Kontrastes wegen wohl thut.“ Der österreichische Klassiker hat hier in klassischer Prägnanz festgehalten, was so viele Österreicher in den hundert Jahren nach diesem seinen Besuch froh und dankbar in Berlin erfahren haben, präzise, genau, zumal in den letzten Jahren vor der Machtübernahme durch unseren engeren Landsmann Adolf Hitler, der sich, erinnernd sei es festgehalten, in Berlin am wenigsten durchsetzen konnte. Berliner Hospi-talität, Gastfreundschaft, eine knappe Art, scheinbar kühl und kurz angebunden, recht weit und sehr menschlich sich zu geben; „Berliner Luft“: der Wind der Freizügigkeit und Offenheit.

Stundenlang konnte man noch lange nach 1945, zu Fuß durch menschenleere Straßen wandern, „immer an der Wand lang“, wie es in dem bekannten Berliner Schlager heißt, nur anders hier zu besehen: immer entlang der mächtigen Schuttmassen einer Trümmerstadt. Dann kam der erste Kampf um Berlin, die Luftbrücke. Und fast über Nacht standen zwei Berlin da, besonders eindrucksvoll aus der Luft zu sehen, wenn man etwa über Frankfurt mit dem Flugzeug nach Tempelhof kam: ringsum Nacht, dunkelste Nacht um Berlin und in Berlin — im Berlin Ulbrichts, und mitten in dieser Nacht eine Lichterinsel, Berlin-West, das Berlin de: französischen, englischen, amerikanischen Zone. Hier entstand in den letzten Jahren ein gläsernes Paradies. Das Hansaviertel, von den berühmtesten Architekten der westlichen Hemisphäre erbaut, ist ein eindrucksames Bild: Wunschbild einer freien Welt.

Berlin im Herbst 1960: Pankow und Moskau sind ganz nah, zu nah. Diese Nähe hat manches verdorben, nicht wiederaufkommen lassen von der geistigen Freiheit, von der seelischen Freiheit, die zuvor einmal da war. Auch Berlin ist, anders als Wien, aber nicht ganz unverwandt, von innerer Einengung und von einer gewissen geistigen Provinzialität bedroht durch ein bedrük-kendes Klima, das über der allseits eingeschlossenen freieren Stadthälfte liegt, von der alle Straßen hinaus nicht nach Rom, sondern eben nach Moskau zu führen scheinen. Etwas von einer Frontsituation liegt über den Bürgern: Der Frontsoldat hat den Krieg nicht begonnen, kann ihn nicht übersehen, kann ihn selbst nicht beenden. Die heroischen Anstrengungen der Berliner Festwochen suchen nicht zuletzt diese bedrohliche Einengung zu überwinden und den reinen Wein der Freude, der Heiterkreit, der Freiheit, echter Selbstsicherheit den Bürgern dieser Festung zu mittein. Die Bewerbung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin um das höchste Amt der Bundesrepublik will auch von Berlin aus gesehen werden: Diese Stadt und ihre Menschen brauchen nicht falsches Mitleid und gute Worte, sondern aktives politisches und mitmenschliches Verständnis.

Die Berliner Woche in Wien sollte uns Anlaß sein zu einer Selbstbesinnung. Was haben wir hier, seit 1955, nachdem uns die Freiheit vielfach unbedankt in den Schoß fiel, wirklich getan, sie zu mehren? Und was werden wir morgen für sie tun, um sie lebendie und glaubwürdig darzuste'Jen, wir hier, in der freien Stadt Wien mit dem Blick auf Berlin. FRIEDRICH HEER

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