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Die Diskussion um die Pläne des polnischen Außenministers R a p a c k i, die eine Auflockerung der in Mitteleuropa heillos versteiften west-östlichen Fronten zum Ziele haben, hat wohl bewirkt, daß auch die „kürzlich gemachten, aufsehenerregenden Vorschläge des Mister George F. K e n n a n nicht nur nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, sondern vielleicht sogar noch an Aktualität gewonnen“ haben, wie in diesen Tagen das führende Warschauer Blatt „Trybuna Ludu“ bemerkte. Es handelt sich dabei um jene Vorschläge, die Mr. Kennan im Zuge seiner Vortragsreihe gemacht hat, die im November und Dezember v. J. über BBC-London gelaufen ist und die inzwischen auch von zwei großen westdeutschen Sendegesellschaften übernommen und von den größten westdeutschen Zeitungen — der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der „Welt“ — in ausführlichen Aus-zugen wiedergegeben worden, sind. a

Das wesentlichste aus der in den genannten Radiovorträgen entwickelten „Kennan-Theorie“ gipfelt in drei Punkten:

1. Wenn der jetzige — durch das westliche Versagen in der Ungarnfrage am Ende des vergangenen Jahres und das westliche Unvermögen, auch dem Gomulka-Regime in Polen im Laufe des letzten Jahres wirksam unter die Arme zu greifen — Zustand einer Art sowjetischen Restauration in dem bereits gegen Moskau rebellierenden Osteuropa sich wieder konsolidiert und andauert, werden die Völker jenes Raumes die westliche Welt allmählich ganz abschreiben und entweder in Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Demoralisierung verfallen oder aber sich am Ende dennoch mit ganzem Herzen der Sache Moskaus anschließen.

2. Nur ein Abzug der sowjetischen Truppen aus ihrem Räume würde erneut revolutionäre Möglichkeiten in Richtung auf politische Institutionen und soziale Systeme eröffnen, die den tatsächlichen Bedürfnissen und Interessen jener Staaten und Völker angepaßt sind.

3. An einen Rückzug der Sowjettruppen aus Osteuropa ist aber solange nicht zu denken, solange das gesamte Gebiet Mittel- und Osteuropas nicht der gegenwärtigen militärischen Rivalität der beiden Weltmächte entzogen werden kann.

... UND 3 KONSEQUENZEN

Aus diesen drei Thesen zieht dann Kennan die folgenden drei Konsequenzen:

1. Den Völkern Osteuropas kann in ihrer gegenwärtigen Lage nur noch geholfen werden, indem man das Problem Osteuropas mit demjenigen der deutschen Frage koppelt.

2. Da sich die Russen so lange nicht aus Osteuropa zurückziehen werden, solange in Westdeutschland amerikanische und andere NATO-Truppen stationiert sind, bedingt eine Lösung des heillos zwischen West und Ost festgefahrenen deutschen Problems auch eine Lockerung für Osteuropa.

3. Die Zurückziehung der NATO-Truppen aus Westdeutschland und gewisse militärische und außenpolitische Beschränkungen für ein dann innerhalb eines neuen Mitteleuropa zu bildendes Gesamtdeutschland sind der Preis, für den auch der Rückzug der Sowjets aus Ost-

europa und damit eine Neuorientierung jenes Raumes erkauft werden kann. Das Endziel dieser Konsequenzen wäre ein zwischen West und Ost neutraler Mitteleuropablock, bestehend aus Deutschland, Polen und den südosteuropäischen Donaustaaten — also die Wiederherstellung des alten europäischen Gleichgewichts (Westen, Mitte und Osten Europas), das schon 1918 mit der Zerschlagung der k. u. k. Donaumonarchie aus den Angeln gehoben und dann 1945, mit der Teilung Deutschlands und Europas in zwei feindliche Lager, restlos zerstört wurde, unter neuen politischen Vorzeichen: atlantisch-amerikanisch orientierter Westen, neutrale Mitte, eurasisch-sowjetisch orientierter Osten!

In der Theorie klingt das alles sehr vernünftig und logisch, vor allem, wenn dies ein Mann ausspricht, der — wie Kennan — „auch das ■: geertwärtige'Siwjfetische“Ph'änomett 'nicht anders •als im Rahmen der großen geschichtlichen Perspektiven zu sehen“ vermag, wie er vor drei Jahren im Rahmen seiner Vortragsreihe an der Frankfurter Universität betont hat. In der Tat — diese Kennan-Theorie ist auf lange Sicht berechnet, und man tut ihr keinen größeren Schaden an, als wenn man versucht, sie unter parteibedingten Aspekten tagespolitisch auszu-

schlachten. Dieser Mißbrauch der Kennan-Theorie, den unter anderen die westdeutsche SPD-Opposition ebenfalls im Dezember v. J. versucht hat, ist nämlich ebenso abwegig wie die a priori vorgenommene Ablehnung jener Gedanken, nur weil sie von der bisherigen Taktik der westlichen Außenpolitik erheblich abweichen und ein völlig neues Durchdenken des jetzigen politischen Wirklichkeitsbildes nach den größeren historischen Perspektiven erfordern.

DIE PROBE AUFS EXEMPEL

Soweit die Theorie. Was freilich die Praxis anbelangt, ist noch einiges hinzuzufügen. Zunächst einmal ist zu prüfen — dies kann aber keineswegs durch Ablehnung der Kennan-Thesen, sondern im Gegenteil nur durch Aufnahme von west-östlichen Verhandlungen auf deren Grundlage geschehen —, ob die gegenwärtig so verfahrene Lage in Mittel- und Osteuropa tatsächlich — wie es eben Kennan sieht — vor allem die Folge einer militärstrategischen Problematik ist und sich demnach im Sinne Kennans wirklich lösen ließe, oder aber, ob für Moskau — da die Außenpolitik des Kremls doch nicht nur eine rein russisch-imperialistische, sondern auch noch eine sowjetisch-weit-

revolutionäre ist — der ideologische Aspekt etwa schwerer wiegt als alle vernünftigen militärischen Sicherheitsüberlegungen, weshalb man auch mit Kennans Vorschlägen nicht weiterkäme ...

Es stellt sich ferner die Frage, was geräumt werden soll oder — mit anderen Worten — was man eigentlich unter „Mitteleuropa“ zu verstehen hat. Denn nur allzu recht hatte in diesen Tagen der Publizist Emil F r a n z e 1, wenn er in der „Deutschen Tagespost“ vermerkte:

„In den Reden Kennans wird bald von Deutschland, bald von Mitteleuropa und von Osteuropa gesprochen. Man wirft diese geographischen und geopolitischen Begriffe durcheinander... Es ist heute schon fast unmöglich, allmählich überhaupt noch den Begriff Deutschland eindeutig zu um- • schreiben. Es ist vollends unmöglich, in Ost und

West unter dem Begriff Mitteleuropa das gleiche zu verstehen. Die Verhandlungen müßten also zunächst einmal mit einer umständlichen Klärung dieser Begriffe beginnen, denn davon würde schließlich alles abhängen ...“

Kennan hat sehr recht mit seiner fundamen-

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