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Ein neuer Marshall-Plan?

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Das Unbehagen an der amerikanischen Außenpolitik der letzten Jahre ist in Amerika selbst stark angestiegen. Der gemeinsame Nenner der amerikanischen Kritik ist der Mangel an Konsequenz, an Linie; ein Mangel, der sich in der Diskrepanz von Worten und Taten ausdrückte, ja auch in der Unvereinbarkeit von Argumenten, die Amerikas verschiedenen Partnern unterbreitet werden.

Die Meinungen der amerikanischen Kritiker gehen allerdings darüber auseinander, auf welcher Ebene die Gleichsetzung von Worten und Taten, die gegenseitige Abstiihmung von politischen Argumenten, erfolgen soll. Die einen glauben, der Fehler liege in der mangelnden Anstrengung, geweckte Erwartungen nun auch erfüllen zu können; sie befürworten eine immer größere Beteiligung Amerikas an der politischen und wirtschaftlichen Befriedung der Welt. Die anderen sehen das Unvermögen Amerikas, seiner manchmal allzu laut proklamierten Führerrolle nachzukommen, als erwiesen an und wünschen größere Bescheidenheit in der Formulierung außenpolitischer Ziele und Verbindlichkeiten, t

Zum Wortführer der letztgenannten Tendenz ist im letzten Winter, sehr gegen seinen Willen, George F. Kennan geworden. Seine besondere Sorge ist die um die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Teilung Deutschlands erscheint Kennan als der potentiell gefährlichste Konfliktherd der Weltpolitik, und seine Vorschläge des sogenannten „disengagement“ sind ein fast verzweifelter Versuch, die unheilvoll festgefahrene Situation im Herzen Europas zu bereinigen.

KENNANS „OPPOSITION“

Diese Vorschläge sind hier schon eingehend gewürdigt worden. Es ist daher wichtiger, der grundsätzlichen Einstellung Kennans zur weltpolitischen Lage nachzugehen.

Diese Einstellung muß verstanden werden aus seiner Opposition zu einer in Amerika weitverbreiteten Geisteshaltung, nämlich dem Missionsgedanken. Daß es Amerika besser hat —

-J-.dtaa bnr: .fiimris: ,ii iu£ jwnwlivsailBrbjLIs und daher vielleicht auch besser ist — als andere Völker und Staaten, ist eine Idee, die tiefe Wurzeln in der religiösen sowie der sozialwirtschaftlichen Entwicklung des Landes hat. Eine Folge dieses Glaubens ist ein Missionsgedanke, der in zweifacher Gestalt auftritt: einerseits erweckt er den Wunsch, dem Rest der Welt die Vorteile amerikanischer politischer Institutionen und wirtschaftlich-technischer Errungenschaften zu demonstrieren. Anderseits haben die Amerikaner oft, nach Kennan aus einer Art Schuldgefühl heraus, die moralische Verpflichtung gefühlt, ihre Reichtümer und sonstigen Vorteile anderen zukommen zu lassen — ein altruistischer Zug, der in der Psychologie des Marshall-Planes eine größere Rolle gespielt hat, als es zynische Europäer wahrhaben wollen.

George Kennan, dem Menschenbild der Antike mit seinen Idealen des Maßes und des

Stolzes (nicht im Sinne von hybris, sondern von megalopsychia) geformt, hat sich in etlichen seiner früheren, in Europa weniger bekannten Schriften gegen beide Tendenzen ausgesprochen, gegen eine moralisierende Hilfsbereitschaft“ und gegen eine kurzsichtige Eigenbrötelei. Beide Tendenzen laufen dem Prinzip der Selbstachtung entgegen, das im Mittelpunkt von Kennans politischer Weltanschauung steht. Der vielberufenen amerikanischen „Pflicht, anderen zu helfen“, hat Kennan die „Pflicht gegenüber uns selbst“ entgegengesetzt. Ein aus Mitleid und Schuldgefühlen gespeister Altruismus kann leicht zum Opfer der Erpressung durch andere, vor allem unterentwickelte Länder werden, die mit der Hinwendung zürn Kommunismus drohen.

Trotz Kennans Vorschlag, erpresserische Länder lieber dem sowjetischen Lager zuwandern zu lassen, als einen Tribut zur Erhaltung der „Freundschaft“ zu leisten, scheint es uns unrichtig, daraus die Folgerung des Isolationismus zu ziehen, wie dies einige hervorragende Kritiker, vor allem Dean Acheson, getan haben. Gerade Kennan hat in seinem Buch „Realitäten der amerikanischen Außenpolitik“ eindringlich, wie wenige andere, auf die Unwirklichkeit von Staatsgrenzen, auch von Amerikas Grenzen, in der heutigen Weltsituation hingewiesen. Es liegt Kennan vor allem daran, die Beziehungen Amerikas zu den Ländern Asiens und Afrikas, aber auch Lateinamerikas, aus dem Circulus vitiosus der Erpressung und des Ausspielens von Rußland gegen Amerika herauszureißen. Daher wünscht Kennan Weniger kalten Krieg und mehr Geschäftssinn in Amerikas Beziehungen zu diesen Ländern. Rußland dauernd aus diesen Gebieten wirtschaftlich herauszuhaken, erscheint Kennan auch politisch unrealistisch. Kennan wehrt sich gegen die Umwandlung der amerikanischen Wirtschaftshilfe in einen dauernden Tribut. Es ist daher eine durchaus politisch durchdachte Konzeption, die Kennan den Primat der Wirtschaft vor der Politik proklamieren läßt. Auch rechnet Kennan damit, daß sich Rußland vielleicht doch als weniger zuverlässiger Wirtschaftspartner herausstellen würde — und das Risiko eines temporären Abschwenkens in das andere Lager müßte eben in Kauf genommen werden. Wenn man daher zwar nicht von Isolationismus sprechen kann, verficht Kennan doch eine Konzeption der Selbstbeschränkung, die von einer gemäßigteren Einschätzung der Möglichkeiten Amerikas ausgeht.

Der profilierteste Gegner von Kennans Thesen ist sein ehemaliger Chef, Dean A c h e s o n, geworden, der bedeutendste Leiter der amerikanischen Außenpolitik in den letzten dreißig Jahren. Die Zeiten der Zurückgezogenheit vom öffentlichen Amte haben Acheson die Möglichkeit eröffnet, mit größerer Offenheit und persönlicher Freiheit zur Außenpolitik Stellung zu nehmen. Die Reihe von Büchern und Aufsätzen, die seit etwa zwei Jahren regelmäßig aus Achesons Feder erscheinen, nehmen einen hervorragenden Platz in der jüngsten politischen Literatur Amerikas ein, den ihm nicht einmal die Brillanz Adlai Stevensons streitig machen kann. Außenpolitisch an erster Stelle ist zu nennen das Buch „Macht und Diplomatie“, das Acheson vergangenen Winter vorgelegt hat. Acheson, gleich Kennan, ist ein durchaus machtpolitisch denkender Mensch, dem ein moralisierender Missionsgedanke fern liegt. Gleich Kennan sieht Acheson die Möglichkeiten moralischen Handelns in der Weltpolitik nicht so sehr in der Verfechtung von großartigen Zielen, wie ewiger Friede, Weltregierung oder Welt-sanierüng, sondern in der Aufrechterhaltung von menschlichen Qualitäten, die auch bei Macht- und Interessenkonflikten nialit verschwinden müssen: Ehrgefühl; tifetcMa|#*rf# Wahrheitsliebe. (Man muß zwar in der internationalen Politik seinen Gegnern nicht immer die ganze Wahrheit sagen, hat Acheson unlängst geschrieben, aber eben doch nur Wahres.) S

Trotz ähnlicher Ausgangspositionen gelangt Acheson doch zu radikal anderen Schlüssen als Kennan, und zwar vor allem deshalb, weil er das Machtpotential sowohl Amerikas als Rußlands für weitaus größer hält als Kennan.

Wenn Kennan den Versprechungen russischer Wirtschaftshilfe eher skeptisch gegenübersteht und wenn er vor allem auch in absehbarer Zeit an einen Konflikt zwischen Rußland und China glaubt, zeichnet Acheson ein Bild russischer Machtentwicklung, dem man keineswegs eine Unterschätzung Sowjetrußlands nachsagen kann. Acheson weiß um die Bedeutung der russischen Ueberzeugung, daß die Zeit auf Seite der Russen ist, und er scheint diese Ueberzeugung zu teilen, vorbehaltlich einer viel stärkeren amerikanischen Kraftentfaltung. Auf Basis der gegenwärtigen Entwicklung rechnet Acheson damit, daß Rußland vor Ende des Jahrhunderts das amerikanische Produktionsniveau erreicht haben wird. Insbesondere zieht Acheson die politischen Konsequenzen der Automation in Rechnung. In einer konsumorientierten Gesellschaft wie Amerika fördert die Automation Freizeit und Konsum. Außerdem neige das Schwergewicht amerikanischer Industrieentwicklung immer mehr zur Leichtindustrie, während die Schwerindustrie, nötig nicht nur für die Rüstung, sondern auch für die Industrialisierung unterentwickelter Länder, im Verhältnis nachhinke. Die Rolle der Automation in einer totalitären Gesellschaft mit starker Konsumkontrolle sei eine ganz andere; dort könne die Automation zu immer neuen Investitionen in der Schwerindustrie führen und daher die Stellung Rußlands im Wettbewerb um die unterentwickelten Länder rapid verbessern. Einer der wichtigsten Faktoren in der Machtentwicklung Rußlands und Amerikas werde die Arbeitsdauer sein, welche die Menschen in den zwei verschiedenartigen Geellschaftssystemen auf sich nehmen, und selbstverständlich auch die Natur der Arbeitsprodukte.

Das Wachstum der sowjetischen Macht erfordere die Entwicklung einer Gegenmacht, wolle man nicht die russische Hegemonie konzedieren. Acheson bekennt sich damit, im Gegensatz zu Kennan, zu einer engen politischen Interpretation der amerikanischen Wirtschaftshilfe. Das Risiko, unterentwickelte Länder engere Bekanntschaft mit der russischen Industrie machen zu lassen, erscheint Acheson, im Gegensatz zu Kennan, zu groß. Acheson urgiert eine Ausweitung der amerikanischen Ueberseeinvestitionen.

Zwei Wege, so definiert Acheson das amerikanische Dilemma, öffneten sich dem amerikanischen Volk. Der eine Weg bestünde in der Nutzung der amerikanischen Produktivität und harter, vielleicht härterer Arbeit, um die Periode der kompetitiven Koexistenz frei und stark zu überwinden. Auf der anderen Seite bestünde die Möglichkeit, die amerikanische Produktivität für ein Weiterwachsen von Konsum und Freizeit zu verwenden, dabei aber die freie Welt führerlos driften zu lassen. Acheson ist realistisch genug, zu glauben, daß der erste Weg, der ihm wünschenswert erscheint, nur eingeschlagen werden kann, wenn die amerikanische Führung die Zivilcourage hat, dem Volk den Ernst der Situation vor Augen zu führen. Das ist mehr verlangt, als manche Politiker, denen es um die Wählergunst zu tun ist, zu geben bereit sind. Acheson hofft auf einen großen Staatsmann, der Courage, politischen Instinkt und echten Respekt vor einer freien Demokratie vereinen könnte. Allerdings kann man nicht behaupten, daß sich in der Krisensituation des heutigen Amerikas ein zweiter Abraham Lincoln gefunden hätte.

Inzwischen haben Ereignisse, wie die Sputniks und vor allem die Entwicklung im Mittleren Osten, bei den gegenwärtigen Leitern der amerikanischen Weltpolitik Reaktionen hervorgerufen, die sicherlich der Konzeption Achesons ähnlicher sind als den Hoffnungen Kennans. Ein altes innerpolitisches Rezept, wie man mit politischen Gegnern umzugehen hat — wenn man sie nicht besiegen kann, sich mit ihnen zu vereinigen —, scheint nun auf den Mittleren Osten Anwendung zu finden, und auch die Aenderung der Einstellung gegenüber Indonesien verrät die gleiche Methode. Die Rede Präsident Eisen-howers vor der Sonderversammlung der Vereinten Nationen deutet die Möglichkeit einer gigantischen Wirtschaftshilfe für die arabischen Nationen an, die, mutatis mutandis, einem Super-Marshall-Plan gleichen könnte. Amerika scheint bereit, neue und besondere Anstrengungen zu unternehmen, die an das Programm des: Jahres 1948 erinnern. Allerdings sind die politischen Verhältnisse im Mittleren Osten doch ganz andere als die Mittel- und Westeuropas, und es bleibt abzuwarten, ob sich die Befürchtungen Kennans als leer erweisen werden.

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