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Das Trauma „Wiedervereinigung“

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Einzelne deutsche Publizisten haben schon 1958 angeregt, man solle doch statt des starren Nein zu den sowjetischen Forderungen endlich „konstruktive Gegenvorschläge“ ins Gespräch bringen. Unter vier Augen und hinter den Kulissen haben manche deutschen Politiker dieser Ansicht zugestimmt. Offiziell hieß es, daß der einzige konstruktive Gegenvorschlag eben die Forderung nach Wiedervereinigung durch freie gesamtdeutsche Wahlen sei. Die SPD hat in ihrem Deutschland-Plan eine Lösung vorgeschlagen, die der von Ulbricht (und Moskau) geforderten bis auf Haaresbreite nahekam, hat den Plan dann fallen gelassen, ist gelegentlich auf ihn zurückgekommen und würde ihn unter Umständen wohl auch wieder ausgraben. Er würde die schrittweise durchzu- führende Kapitulation, die Gleichschaltung der Bundesrepublik mit Ulbrichts DDR, unausweichlich nach sich ziehen. Man stelle sich vor, es wäre

den Sowjets gelungen, Wien zu einem kommunistischen Staat zu machen und man hätte es dann auf der Grundlage der Parität mit den übrigen Bundesländern vereinigen wollen! Während die deutsche Linke — im weitesten Sinn des Begriffes, also SPD, FDP, linke CDU CSU und die „Inteli- gentsija“, die Presse, Rundfunk und Fernsehen zu neun Zehnteln beherrscht — auf die Wiedervereinigung, also auf einen gesamtdeutschen Einheitsstaat mit Berlin als Reichshauptstadt entscheidenden Wert legen und sehr viele Opfer bringen würde, um dieses Ziel zu erreichen, unter Umständen also auch das Opfer ihrer eigenen Freiheit und der Souveränität der Bundesrepublik, empfahlen einzelne Vertreter des konservativen Lagers andere Kompromißlösungen. Ihnen schwebte vor, auf die Einheit zugunsten der Freiheit, auf die Wiedervereinigung zugunsten der Befreiung Ostdeutschlands zu verzichten und für

Berlin den Status der „Freien Stadt“ zu akzeptieren, wenn sich dafür die Herausgabe Ost-Berlins eintauschen ließe. Als der Publizist P. W. Wenger solche Thesen — allerdings kombiniert mit zu weitgehenden, sich dem deutschen Einfluß auf jeden Fall entziehenden Planungen für das ganze Intermare — veröffentlichte, wurde er durch einen Chor von unentwegten Gesamtdeutschen niedergeschrien, der von dem linken Flügel der SPD über die Sprecher der Vertriebenen bis zu Gerstenmaier und den Erben des preußischkleindeutschen Geschichtsbildes in der CDU reichte. Auch die bekannten Äußerungen von Karl Jaspers, der die Wiederveinigung als „irreal“ (er meinte: „nicht realisierbar“) bezeich- nete, erregten einen Sturm im Wasserglas und in manchen Wasserköpfen, doch mündet die Diskussion am Ende in eine sachliche Aussprache. Die

klarste Formulierung dessen, was man deutscherseits als konstruktiven Gegenvorschlag hätte vortragen können, kam von Sebastian Haffner, in einem Artikel, den der „Observer“ etwa vor drei viertel Jahren veröffentlichte.

Haffner schlug vor, man solle die „DDR“ als souveränen Staat anerkennen und mit einem „Österreich-Status“ neutralisieren. Die Sowjets sollten ab- ziehen, Berlin sollte Hauptstadt dieses neutralen mitteldeutschen Staates werden, den er „Preußen“ nennen wollte. So würde Hitlers Großdeutsches Reich — von den Gebietsabtretungen im Osten abgesehen — endgültig in drei Staaten geteilt sein: in das neutrale Preußen, das neutrale Österreich und die in den Westen integrierte Bundesrepublik. Der Vorschlag fand merkwürdigerweise in der Bundesrepublik kaum Beachtung. Sachlich konnte man gegen ihn natürlich einwenden, daß er um Jahre zu spät kam. Um 1955 wäre diese Lösung vielleicht durchzusetzen gewesen. Ebenso wäre der Vorschlag, ganz Berlin, nicht nur West-Berlin, zu neutralisieren, spätestens im Herbst 1958 noch aussichtsreich gewesen.

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