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Erhard zwischen zwei Feuern

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Es ist vielleicht ein etwas unglückliches Zusammentreffen, daß die ersten Donner des Bundestagswahlkampfes von 1965 auf die Zeit der Ernüchterung nach den ersten Flitterwochen mit Deutschlands zweitem Bundeskanzler, Ludwig Erhard, fallen. Trotzdem wird man nicht umhin können, festzustellen, daß Erhard in dieser zweiten Runde keine sehr glückliche Figur gemacht hat. Sein neuer Stil, der sich so wohltuend von dem der Spätzeit Adenauers abhob, schien ja darin zu bestehen, sich in der Innen- und Außenpolitik allein von den Gesetzen der Vernunft leiten zu lassen und diese nicht immer populäre Politik unter Umständen mit wechselnden Mehrheiten im Bundestag durchzusetzen. In diesem Sinn war wohl auch die enthusiastische Äußerung eines SPD-Abgeordneten im Bundestag zu verstehen, Ludwig Erhard sei ein „Kanzler des ganzen deutschen Volkes“.

Nur wäre es durchaus vorstellbar gewesen, wenn die Wahlstrategen der SPD, und wohl auch der FDP, etwas unruhig bei dem Gedanken geworden wären, gegen diesen Kanzler in einem Jahr einen Wahlkampf führen zu müssen. Es wäre zwar nicht klug, aber immerhin unter diesem Gesichtspunkt noch verständlich gewesen, wenn sie sich zu Provokationen hätten hinreißen lassen. Zum allgemeinen Erstaunen scheint ihnen aber Ludwig Erhard selbst ihre Sorgen abnehmen zu wollen. Es mehren sich Zeichen, daß er sich von den Scharfmachern seiner Partei auf eine Linie bringen ließ, die ihn rascher, als er vielleicht selber glaubt, um alle Bewegungsfreiheit bringen kann.

Zwei Entscheidungen sind es, die diese Kritik in der deutschen Öffentlichkeit herausgefordert haben: einmal die plötzliche und auch etwas unmotivierte Zurückweisung des Passierscheinabkommens, das zwischen dem West-Berliner Senat und der Ost-Berliner Regierung auf der Basis der zu Weihnachten gefundenen Lösung ausgehandelt worden war; zum zweiten jene praktisch aus dem Nichts aufgetauchte Koalitionskrise vom vergangenen Mittwoch. In beiden Fällen wird man über die sachliche Berechtigung verschiedener Meinung sein können. Was aufhorchen ließ, war die Form, die etwas an den Stil der späten Adenauer-Zeit erinnerte und in Gegensatz zu dem zu stehen schien, was Erhard bisher propagierte.

Mitte Jänner waren die Verhandlungen um eine Lösung in der Passierscheinfrage zwischen dem Senatsrat Horst Körber und dem Staatssekretär der DDR, Erich Wendt, wiederaufgenommen worden. Die Bemühungen zielten auf eine Erneuerung der Weihnachtsregelung für die Oster- und Pfingst-feiertage. Zu Weihnachten hatten ostdeutsche Postbeamte in West-Berlin die Anträge entgegengenommen und die Passierscheine ausgegeben. In dem darüber ausgehandelten Abkommen war jede Anerkennung der DDR vermieden worden. Die Lösung war nicht ideal. Bei der Abwicklung war es zu schwer erträglichen Zuständen gekommen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte Ulbricht dieses Abkommen weidlich für seine Zwecke als eine indirekte Anerkennung seiner Dreistaatentheorie auszuschlachten gesucht. Anderseits hatte es sich insofern bewährt, als es zu keinen Zwischenfällen gekommen und von der West-Berliner Bevölkerung allgemein begrüßt worden war. Im Dezember jedenfalls hatten sich Erhard, Brandt und der als Minister für gesamtdeutsche Fragen zuständige Vorsitzende der FDP, Erich Mende, als wahre Weihnachtsmänner gefühlt. Das Abkommen war sofort innerhalb der CDU/CSU auf Kritik gestoßen. Insbesondere der Vorsitzende der CSU, Franz Joseph Strauß, und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Rainer Barzel, hatten heftige Kritik geübt, wobei sich Barzel zu der Äußerung verstieg: „Die Berliner nehmen von den Amerikanern die Sicherheit, von Bonn das Geld und vom Osten die Passierscheine.“

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