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WILLY BRANDT DER SIEG DES ANTIFUNKTIONÄRS

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Berlins neuer regierender Bürgermeister, Willy Brandt Jahrgang 1913, mit seinem bürgerlichen Namen Herbert Karl Frahm, wirkt älter, als die Jahre vermuten lassen. Der Abiturient des Lübecker „Johanneums“ will „Zeitungsschreiber" werden. Er wurde es, aber nicht in Deutschland, das er 1933 verließ. Damals war er ganze 20 Jahre alt und hatte sich bereits in der sozialistischen Jugendbewegung betätigt. Er ging nach Norwegen, das er bereits als Schüler kennen und schätzen gelernt hatte. Hier, in Oslo und Stockholm, veröffentlichte Brandt — wie er sich seit seiner Emigration, vielleicht in Anlehnung an Ibsens Dramenhelden, nannte — acht Bücher, mehrere Broschüren und zahlreiche Zeitungsartikel. 1937 war er als Berichterstatter für skandinavische Blätter in Spanien. Zu Beginn des zweiten Weltkrieges betätigte sich Brandt als einer der drei Sekretäre der Norwegischen 'Volkshilfe. 1940 gerät er in norwegischer Uniform in deutsche Kriegsgefangenschaft, schlüpft unerkannt durch die Netze der Gestapo, wird ordnungsgemäß entlassen und geht nach Schweden. Nach Kriegsende kehrt Brandt nach Deutschland zurück, zunächst als Berichterstatter, dann als Presseattache- an die norwegische Militärmission nach Berlin. 1947 vertauscht er, nachdem die Kieler Landesregierung seine Wiedereinbürgerung vor genommen hatte, seinen norwegischen Paß gegen die dürftige deutsche Lebensmittelkarte. Ein Jahr später entsendet ihn der sozialdemokratische Parteivorstand unter Kurt Schumacher als Mittelsmann zu den alliierten Stellen nach Berlin. Im Jahr darauf wird Brandt Bundestagsabgeordneter und zieht 1951 ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Vor kurzem wurde nun Willy Brandt mit 86 Stimmen von 118 und zwar mit nur zehr, Gegenstimmen zum regierenden Bürgermeister Berlins gewählt.

Man weiß, daß diese Wahl gegen den Willen des zuständigen SPD-Parteivorsitzenden erfolgte, der für den Bürgermeisterposten einen linientreuen Verwaltungsbeamten designiert hatte. Aber die Berliner CDU-SPD- Koalitionsregierung entschied sich für Brandt, der bereits vor Jahren festgestellt hatte, daß Zeichnung: Leo Tlchatechek „Diktatur des Proletariats“ eine „unglückselige Formel“ sei, der statt strenger Planwirtschaft eine regulierte Marktwirtschaft befürwortete — und der von sich bekennt, ein „Intellektueller“ zu sein.

Die öffentliche Meinung Berlins, und zwar nicht nur der Mann aus dem Volk, sondern auch die „geistig Schaffenden", die kulturell Tätigen und Interessierten, sind für Brandt. Die unabhängige Presse begrüßt in ihm einen „Mann von Format" und spricht die Hoffnung aus, daß ein neues Kapitel Berliner Politik und Kulturpolitik beginne, auf das man'gute Hoffnungen setzen darf. Auf diesem Posten möchte man lieber eine scharfprofilierte Persönlichkeit als einen guten Verwaltungsbeamten sehen. Denn man weiß, daß der Tag nicht mehr fern ist, wo Warschau und die anderen Metropolen des Ostblocks keine Tabus mehr für das Bonner Auswärtige Amt sein werden und an dem sich die Bundesrepublik in dieser oder jener Weise mit der Zonenregierung wird auseinandersetzen müssen. „Im Zusammenhang damit“, schreibt die „Welt“ als eine der führenden unabhängigen Tageszeitungen, „kann die Bedeutung Berlins, das zum Westen gehört und den Osten kennt, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Seine Ratschläge, seine Mithilfe und vielleicht sogar seine Initiative werden für Bonn eine unschätzbare Unterstützung sein. Es ist gut, angesichts dieser Aufgaben der Zukunft einen Mann wie Willy Brandt an der Spitze Berlins zu wissen.“

Man weiß, das Brandt zum persönlichen Einsatz bereit ist, und man erinnert sich an den 5. November vorigen Jahres, als nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes West-Berliner Demonstranten zum Brandenburger Tor marschierten und sich anschickten, über die Sektorengrenze in das Feuer der Volkspolizeigewehre zu stürmen. Da war es Willy Brandt, der von einem Lautsprecherwagen aus die Demonstranten zum Rückzug bev»g und ein unabsehbares Unglück verhinderte. — Soeben hat er ein seit Jahren heißumstrittenes Projekt, die Berliner Philharmonie, unter Dach gebracht. Man sieht: Brandt ist Kulturpolitiker, wie eine große Stadt ihn brauchen kann..

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