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Kalter Wind aus Thüringen

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Die gar nicht frühlinghafte Spätwinterbrise, die den Spaziergänger „Unter den Linden“ und aus dem Osten frösteln macht, läßt die Fenster der Arbeitsräume des ostzonalen Ministerpräsidenten Willi Stoph noch unheimlicher aus dem Dunkel der Nacht vor dem letzten Wochenende hervortreten. Wenige verzagte Menschen, die zur selben Stunde Palmkätzchen für die Weihe am „Sonntag vom Leiden des Herrn“ in den Westberliner Diasporakirchen heimtrugen, meditieren offensichtlich über die schockartig provozierten, neuen Perspektiven, die sich aus dem Erfurter Treffen für die geteilte Stadt an der Spree ergeben könnten. Nichts da vom unqualifizierten, emotionellen Placet, das manche westdeutsche Bundesbürger der östlichen Bewegungspolitik des ehemaligen Regierenden Stadtobervaters Willy Brandt entgegenbringen. Nichts da von den Illusionen einer „nachbarlichen Zusammenarbeit“, die der Bonner Bundeskanzler wider besseres Wissen aus seiner Zeit an der Todesmauer utopisch beschwor. Was Willy am Präsentierteller dem anderen Willi offerierte, das ist dem hellsichtigen Spreebewohner das drohende Wetterleuchten vor einem gesamtdeutschen Gewitter, vor einer politischen Naturkatastrophe, die bestenfalls von den alliierten Souveränen im Westen der geteilten Stadt abgedrängt werden könnte. Denn einmal staatsrechtliche Avancen bedeuten zum anderenmal völkerrechtliche Beziehungen. Und hat man einmal die Theorie von den beiden gleichberechtigten und selbständigen Staaten von den internationalen Beziehungen zwischen der Rheinhauptstadt und Pankow, dem deutsch-deutschen Gemeinvokabular einverleibt, ist der Sprung zur Respektierung der DDR-Argumente für Berlin als drittem Staat nahezu geschafft.

Daß in diesem Falle die Lichter bundesdeutscher Freiheit auch am Kurfürstendamm, wo immer und immer wieder kommunistisch unterwanderte Gammler Wohlstandsschaufenster zertrümmern und normale Menschen bedrängen, auf Spar-fiamme geschaltet oder gar ausgelöscht werden könnten, wird auch dem politisch einsichtslosen Herdenmenschen „hell auf der Platte“, wie man im bewundernswert optimistischen Jargon Berliner Uberlebenswillens sagen würde.

Willi Stophs Fußangeln die der andere Willy offensichtlich erkannt hat, jedoch vor den parlamentarischen Kollegen Kiesinger und Strauß zu verdecken sucht, sollen nun durch interalliierte Berlin-Gespräche auf Botschafterebene ab 26. März entschärft werden. Wiewohl die eigentlichen Arbeitsbesprechungen über das weitere Schicksal Berlins im Lichte der Erfurter Gespräche am bitteren Karfreitag beginnen dürften.

Die Berliner ihrerseits kramen in historischen Reminiszenzen. Würde sich Willy Brandt, dessen Stellung gegenüber Claus Schütz, Berlins Regierendem SPD-Genossen und -Nachfahren, immer frostiger wird, den SED-Machthabern an den Fäden des Kremls unterwerfen, wie acht Jahrhunderte zuvor in Erfurt sich Heinrich der Löwe dem Kaiser Friedrich Barbarossa subordinierte? Oder würde es Stoph wie August Bebel im Jahre 1869 ergehen, der in Erfurt vergeblich versucht hatte, die Lassallener für die Sozialdemokraten zu gewinnen? Oder würden die letzten Vier-Augen-Dialoge zwischen dem einen Will mit dem normalen „I“ und dem anderen mit dem „fremden I“ ebenso geheim bleiben wie die zwischen dem russischen Zaren und Napoleon vor 162 Jahren? Die Menschen an der Spree mit der Hellsichtigkeit, die nur Leidenden gegeben ist, halten nichts von der „Bewegungstherapie“ des deutschen Kanzlers. Sie haben nämlich erkannt, daß es eine Bewegung „auf den Abgrund hin“ ist, die vielleicht den größten Sieg des Weltkommunismus seit 25 Jahren just auf dem Terrain des schwergeprüften Deutschlands und seiner liebenswerten, alten Hauptstadt promoviert.

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