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Man spürte den Schlag von München bis nach Hamburg. Am Mittag waren die Auflagen aller Zeitungen verkauft. Das politische Leben stockte. Stärker als durch alle Verträge, hat die DDR mit diesem Schlag die „Wahrheit“ den Bundesdeutschen eingebläut — ihre Wahrheit: Es gibt zwei deutsche Staaten. Die Berliner Mauer ist nur die lokale Verdichtung der letzten gesamtdeutschen Wirklichkeit. Mißtrauen liegt zwischen den beiden deutschen Staaten und die zugleich begründete und — irrationale Angst, die jedes totalitäre Regime vor jeder Demokratie hat. In der ganzen Bundesrepublik erkannte man nach dem Rücktritt des Bundeskanzlers plötzlich die bisher halbverdrängte Realität. Daß es aber der Staatsmann der Über-brückung der ideologischen Kluft war, der unter der Realität zusammengesunken ist, zeigt die Unversöhnbarkeit des Deutschland der Berliner Mauer mit dem Deutschland, das diese Mauer anerkannt hat.

Einmal sind sie „Sozialfaschisten“ genannt worden. Dann waren sie wieder die Genossen der Volksfront. Einmal wurden die sozialdemokratischen Arbeiter gegen ihre „verräterischen“ Führer mobilisiert. Dann wurden diese Führer wieder die Partner der Arbeitereinheitsfront. Doch im Grunde blieben die sozialdemokratischen Führer, eben „Reformisten“, „Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus“, zeitweise verwendbar, immer auswechselbar. Und ihr Wert lag — und liegt — allein darin. Das gilt selbst für jene sozialdemokratischen Führer, die beim Machtübergang durch Beitritt zur kommunistischen „Sozialistischen Eih-heits- oder Arbeiterpartei“ der neuen kommunistischen Herrschaft die gewünschte Fassade verliehen.

Brandt hat in einer Zeit des sowjetischen Verlangens nach einer schrittweisen Finnlandisie-rung Westeuropas durch den Stil seiner Ostpolitik eine Entspan- | nungseuphorie verursacht. So war Brandt sehr nützlich. Brandt hat aber zur selben Zeit auch um das Überleben der NATO gegen äußere und innere Zerstörer gekämpft.

Ein Sozialdemokrat ist ausgeschaltet worden. Einer reformistisch-kapitalistischen Regierung ist eine schwere Niederlage berei tet worden. Das ist viel wert. Bringt der Nachfolger Schwierigkeiten, wird man es daher mit einem geschwächten Nachfolger zu tun haben.

Mit beiden Augen lacht aber die DDR — und diese westdeutsche Patent-Linke, die einer Bezeichnung als Kommunismus aus dem Wege geht, weil sie deutsch-stalinistisch fühlt und denkt.

Ich sprach in München mit Jusos. Ihre Genugtuung war unver kennbar. Ich sprach in Hamburg mit Funktionären der Gewerkschaft „öffentliche Dienste“. Diese Gewerkschaft hat durch ihren Streik Brandt an den Rand des Abgrundes getrieben. Im Ge fühl, richtig gehandelt zu haben, sahen sie in Brandts Rücktritt nur einen weiteren Beweis seiner Schwäche. Im Deutschland der großen Erschütterung sind die Unerschütterlichen des orthodoxen „Marxismus“ die Brückenköpfe des „ewigen Klassenkampfes“ der UdSSR und der DDR.

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