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WILLY BRANDT / CHARAKTER STATT DOKTRIN

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Der sozialdemokratische Bürgermeister von Berlin hat viele Gesichter. Drei allerdings sind nicht unter ihnen: das des Sozialisten im althergebrachten Sinn mit revolutionärer Ballonmütze und doktrinärem Redeeifer, das des traditionellen Bürgermeisters mit güldener Kette und feierlicher Amtswürde und das der preußischen Tradition der deutschen Reichshauptstadt. (Dazu müßte er zumindest Wilhelm oder Willem, aber nicht Willy heißen.) Dennoch gehört er zu den populärsten Politikern des heutigen Deutschlands. Viele seiner Anhänger, die nicht nur unter den Parteisozialisten zu finden sind, nehmen sogar an, daß er nach dem Ableben eines gewissen anderen einmal der durch ein entsprechendes Wählervotum legitimierte populärste Mann des Deutschlands von morgen sein wird.

Zur Zeit und schon seit einigen Jahren lebt Willy Brandt ausschließlich in der Gegenwart. Er sieht nicht gern in die Vergangenheit und ist auch sehr sparsam mit konkreten Andeutungen über eine Zukunft, von der er annimmt, daß sie sich bereits in den nächsten Monaten, also an der Berliner Front und nicht erst bei der Bundestagswahl 1961, entscheiden wird. Auch wenn er seine Memoiren aufzeichnen läßt und sich dazu einen vielgewandten Journalisten verpflichtet, tut er dies nicht aus Gründen der grübelnden Selbstrechenschaft oder aus der Absicht heraus, bestimmte von ihm durchlebte Geschichtsepochen klärend zu durchleuchten. Er blickt auch bei diesem Geschäft weder im Zorn zurück noch mit Sehermiene in die Zukunft. Er sieht lieber nach links und rechts, auf ein heutiges Publikum, bei dem er anzukommen wünscht, das er zu packen und für sich zu gewinnen sucht. Zuweilen sieht er auch nach vorn, aber dann nicht ins Land Utopia, sondern in den Spiegel, aus dem ihn ein überdurchschnittlich hübscher, bei aller Gepflegtheit aber jungenhaft-gewinnender, hoffnungsvoller Mann zurückgrüßt. Dennoch wäre es falsch und kurzsichtig, den Bürgermeister Berlins als Playboy abtun zu wollen. Dieser noch nicht einmal Fünfzigjährige hat zuweilen auch ein ganz anderes Gesicht. Es ist hart und ernst, nicht ohne entschlossene Brutalität. Er hat in seinem bisherigen Leben auch diese Eigenschaften brauchen können: als sich der junge Lübecker nach der Machtergreifung Hitlers entschloß, ins Ausland zu gehen und im antifaschistischen Norwegen nicht das melancholische Leben eines verbitterten Emigranten, sondern das eines aktiven Widerstandskämpfers gegen den braunen Terror in seinem Vaterland zu führen, den ursprünglichen Namen - Frahm — in ein Pseudonym zu wandeln und während der Kriegsjahre, als Hitler bis nach Norwegen kam, sogar neuerlich über die Grenze zu wechseln. Da und dort gilt eine solche Vergangenheit in Deutschland heute schon nicht mehr als comme il faut. Aber Willy Brandt hat es verschmäht, auch nur eine einzige Etappe seines Lebens zu „überschweigen“. Er kennt gerade in diesem Punkt genau die Grenzen, die einem sich selbst ernstnehmenden Politiker im Buhlen um gewisse Wählerstimmen gezogen sind.

Aber es gibt noch einen anderen Willy Brandt. Den zähen und bedächtigen Taktiker der Großstadtpolitik, in der er sich vor-zukämpfen hatte, zunächst in Berlin, dann aber auch in den obersten Gremien seiner Partei. Er hat sich gegen die Alten durchgesetzt, vor allem aber gegen den traditionellen Oppositionskurs der deutschen Sozialdemokratie. Als Schüler des unvergeßlichen Bürgermeisters Reuter hat er die Berliner Linie erst mit-, dann alleinbestimmt, und zusammen mit seinen ganz andersgearteten Bürgermeisterkollegen im hanseatischen Hamburg und Bremen hat er ihr Dominanz auf der Bundesebene verschafft. Diese Berliner Linie erst mit-, dann alleinbestimmt, und zudem Klassengegner in der Abwehr totalitärer Bedrohung eines nicht zum erstenmal in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie auf der vermeintlichen Linken stehenden Feindes. Den Vorwurf alter Marxisten, daß dies ja doch Reformismus und Opportunismus sei, weist er mit einer Handbewegung zurück. Er weiß sich mit einer Generation junger Sozialdemokraten einig, für die das alles ein historisch gewordener Streit um Worte geworden ist.

In diesen Tagen kommt er nach Wien: Als Gast der Stadt, wie wir hoffen, und nicht nur, wie es da und dort mit unangebrachter Eitelkeit behauptet wird, als Gast der „Schwesterpartei“. Wien kann ihn nicht besser und treffender grüßen als mit den Worten, die der Unterrichtsminister im Sommer dieses Jahres bei der Eröffnung der Berliner Kunstausstellung fand. Der keinesfalls auch nur im entferntesten sozialistische Minister hieß die Berliner Kunstzeugnisse in unserer österreichischen Hauptstadt willkommen. Und er tat dies im Bekenntnis zu jener Freiheit, die hier wie dort Heimatluft und Heimatrecht zu bedeuten hat. F. A.

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