6825339-1974_09_04.jpg
Digital In Arbeit

Pragmatiker — Idealist

Werbung
Werbung
Werbung

Im Oktober 1969 vernahmen die Mitglieder des Bonner Bundestages die erste Regierungserklärung eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers in der Bundesrepublik Deutschland; im April 1970 wiederholte sieh dieser Vorgang im Parlament zu Wien. Die Exilierten der vierziger Jahre, Willy Brandt und Bruno Kreisky, hatten ihre Völker auf dem Weg über demokratisch organisierte Wahlen erobert. In den ersten Jahren lief beiden Staatsführern der süße Duft des Erfolgs nach.

Wir schreiben das Jahr 1974, vieles hat sich geändert, in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich, in Europa und anderswo. Willy Brandt, von dem heute die „Neue Zürcher Zeitung“ befindet, er sei „der zu seinem eigenen Nachteil am meisten überschätzte Politiker Europas“, läßt Abwanderungsgerüchte verlauten, klagt über Einsamkeit und Unverständnis. Sein „Heiligenschein“ hat sich verdunkelt, Illoyalitäten häufen sich. Der Repräsentant einer einst reformwilligen Partei führt nicht mehr, er wird getrieben. Der Hoffnungsträger ist zum Hoffnungsexponenten von Kräften geworden, deren Ziele nicht miteinander zu vereinbaren sind. Die Konsequenz dieses Widerspruchs kann nur Handlungsunfähigkeit und Enttäuschung sein.

Bruno Kreiskys Weg in Österreich seit 1970 hat einen ganz anderen Verlauf genommen als die Entwicklungsgeschichte des

„Idealisten“ Willy Brandt. Der Pragmatiker hat die Regierungspolitik der letzten 20 Jahre zum Teil fortschreiben lassen, ist oft den großen Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen, hat in der Mehrzahl der Regierungsfälle jenen Kompromiß zwischen den Parteien gesucht, den die Sozialpartner der Regierung vorgegeben haben. Seine großen Ansprüche an eine moderne Regierungspolitik stammen aus der Zeit, in der die SPÖ Oppositionspartei war; dann hat er sie zum Teil aufgegeben — und weil er viel doziert hat, ist das (fast) nicht aufgefallen.

Willy Brandt erlebt dieser Tage etwas, was konservative Beobachter verblüffen muß: Die geradezu blitzartige Verwandlung der Gefühle in ihr Gegenteil.

In der Politik, so heißt es, geht man schnell unter, in diesem Metier stirbt es sich schnell. Beispiele für diese Theorie reichen bis nach Nordamerika. Nun ist es an Willy Brandt, diese grausame Regel zu bestätigen.

Bruno Kreisky allerdings scheint vier Jahre nach seinem Wahlsieg von dieser Entwicklung ausgenommen. Er dominiert nicht nur in seiner Partei, sondern in der österreichischen Innenpolitik. Am letzten Parteitag schwieg die Kritik, wenn man davon absieht, daß Karl Czernetz zur Frage des Starkults in der Sozialistischen Partei Bemerkenswertes sagte. Eines aber ist auffällig: Kreiskys einstige publizistische Bewunderer haben begonnen, eine Welle der Kritik zu peitschen. Das hat am festen Sitz Kreiskys in seinem Podest vorläufig nichts geändert. Dennoch kann man auch an ihm merken, daß der Mensch nicht nur mit seinen höheren Zwecken, sondern auch seine Empfindlichkeiten wachsen. Die Souveränität, mit der Kreisky das zumeist überspielt, ist unbestritten, negative Folgewirkungen sind dennoch nicht auszuschließen.

Es ist heute unklar, ob es Kreiskys oder der Partei Wille war, daß zwei Männer im Parteipräsidium die Rolle von „Kronprinzen“ spielen. In der Zeit nach Kreiskys Abgang aus der österreichischen Politik wird sicherlich die Partei ihre Funktion als Weichensteller herausstreichen. Vorläufig läßt sie Kreisky gewähren. Und der Pragmatiker mit einem scharfen Sinn für machia-vellistisches Handeln dürfte so lange seine Position halten, so lange er für die SPÖ Wahlsiege heimbringt und Postenwünsche befriedigt. Ist es einmal aus, dann ist für Kreiskys unumstrittene Führungsrolle in der Partei zu fürchten — wenngleich ein solcher Verfall Kreiskys länger dauern dürfte als der Verfall Brandts in Deutschland — wahrscheinlich auch deshalb, weil sich Pragmatiker, und erst recht, wenn sie österreichische sind, in demokratischen Staaten länger halten als (nur) Idealisten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung