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Eine „Pax Sovietica“?

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Wären die Europäer nicht überzeugt, daß die Sowjetunion keinen militärischen Vorstoß zum Atlantik plant, dürften sie kaum noch ruhig schlafen. Ihre Sicherheit steht auf schwachen Füßen. Die NATO ist dem Warschauer

Pakt in dreifacher Hinsicht unterlegen: Ihre konventionellen Einheiten sind weitaus schwächer als die der Gegenseite; bei den Mittelstreckenraketen besteht seit langem ein Ungleichgewicht, das durch die Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen noch gefährlicher geworden ist; der amerikanische Atomschirm, der bisher auch den sowjetischen Vorsprung bei den Mittelstreckenraketen ausglich, ist durchlässig geworden.

Seitdem die Sowjetunion bei den strategischen Waffen gleichgezogen oder sogar eine Überlegenheit erworben hat, müssen die USA mehr denn je überlegen, ob sie für andere ihre eigene Vernichtung riskieren wollen.

Damit hat sich auch das politische Gleichgewicht verschoben. Schon heute stellt sich die Frage, ob Westeuropa nicht der Gefahr der politischen Erpressung ausgesetzt ist. Denkt man an den Ausgang der jüngsten

Kubakrise, dann gilt dies sogar für die USA. Dieser Hintergrund ist es auch, der Breschnews jüngster „Friedensinitiative“ politische Brisanz verleiht.

Es geht nicht mehr nur um die Modernisierung der atomaren Gefechtsfeldwaffen in Westeuropa oder um eine neue Abrüstungsrunde, in die zum erstenrqal auch die in West- und Osteuropa lagernden Atomwaffenarsenale einbezogen werden sollen, sondern auch vor allem um die politische Vorherrschaft in Europa.

Das politische Ringen um den alten Kontinent ist in eine neue Phase getreten. Nirgends sind Breschnews Vorschläge so skeptisch und kühl aufgenommen worden, wie im Weißen Haus. Carter und sein Sicherheitsberater

Brzezinski fürchten, daß die Europäer den sowjetischen Friedensschalmeien erliegen und in die Passivität sowie die Erpreßbarkeit abgleiten könnten.

Ihre Sorge ist nicht unberechtigt. Wenn Breschnew bei den Europäern keine politische Schwäche wittern würde, hätte er sein Angebot wohl nicht mit der Drohung gewürzt, daß alle jene Europäer zum bevorzugten Ziel eines sowjetischen Gegenschlages werden würden, die sich von ihren amerikanischen „Herrn und Gebietern“ mit Mittelstreckenraketen „beglücken“ lassen.

Insbesondere hatte er dabei die Bundesrepublik im Auge. Der Augenblick für das Angebot einer „Pax Sovietica“ in Europa mag ihm um so günstiger vorkommen, als auch die Zweifel der Europäer an der amerikanischen

Führungsstärke noch nie so ausgeprägt waren und ein Zögern erkennen lassen, Washington zu folgen, sollte der Fehlschlag des SALT- II-Abkommens die Rückkehr zum Kalten Krieg bedeuten.

Glaubt man Henry Kissinger, dann ist die Entspannungspolitik vor zehn Jahren vor allem auf Wunsch der Europäer eingeleitet worden. Diese seien damals von den in den Vietnamkrieg verstrickten USA enttäuscht gewesen und hätten sich von den Sowjets schon wenige Monate nach deren „brutalen Einmarsch“ in die Tschechoslowakei in eine Lage manövrieren lassen, in der sie „glaubten, ihre Friedensliebe beweisen zu müssen“, schreibt er kühl in seinen Memoiren.

Überzeugend ist jedenfalls sein Argument, daß es Entspannung nur bei einem Gleichgewicht der Kräfte geben kann.

Die „Haltet-den-Dieb“-Rufe aus Moskau dürfen niemanden im Westen täuschen. Sollte Breschnews Erpressungsversuch die Europäer beeindrucken, wäre die Entspannung ernsthaft gefährdet, weil einige amerikanische Senatoren ihre Zustimmung zum SALT-II-Akommen auch von der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa abhängig machen könnten.

Ein Nachgeben der Europäer müßte sie in ihrer Überzeugung bestärken, daß das SALT-Abkommen nur Moskau nützt. Breschnew hätte dann in Verruf gebracht, was er angeblich fördern möchte; die Rüstungsbegrenzung und den Beginn von SALT-III-Verhandlungen, die sich auch mit den Atomwaffen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhanges befassen sollen.

Dennoch sollte Breschnew beim Wort genommen werden. Die Begriffe Entspannung und Frieden dürfen nicht allein Moskau überlassen werden - und ebensowenig deren Definition. Ein sowjetisches Angebot von vomeherein einfach als Propaganda abzutun, kann sich innenpolitisch rächen, wie die heute noch gelegentlich aufflammende Debatte über die Stalin-Note von 1952 zeigt. Nur muß das Angebot von den Drohungen und

Bedingungen getrennt werden.

Gleiche Sicherheit für alle heißt auch, daß der Westen Breschnews Behauptung in Frage stellen muß, die sowjetischen SS-20-Raketen bedroh-

ten nicht das Gleichgewicht in Europa. Selbst wenn die Zahl der Trägerraketen gleichgeblieben ist, so hat sich doch die Anzahl der Sprengköpfe verdreifacht. Verhandlungen über die Begrenzung solcher Kernwaffen sind sinnlos,

wenn die NATO durch den einseitigen Verzicht auf Mittelstreckenraketen eine Vorleistung erbringt. Ebensowenig hilft ihr dann Breschnews Bereitschaft, die SS-20-Raketen, deren Reichweite 450p Kilometer beträgt, etwas weiter nach Osten zu rücken.

Die westliche Allianz kann ihre Sicherheit, ihren Zusammenhalt und ihre Chancen bei Rüstungsbegrenzungsgesprächen mit Moskau nur wahren, wenn sie sich nicht auseinanderdividieren läßt und ihr Faustpfand, nämlich die geplante Nachrüstung, nicht aus der Hand gibt Zwischen einem NATO-Beschluß, neue Kernwaffenträger zu produzieren, und deren Stationierung hegen ohn- hin mindestens vier Jahre. Diese Zeit kann für Verhandlungen genutzt werden.

An seiner Bereitschaft dazu könnte Breschnew seine Ernsthaftigkeit zeigen. Offensichtlich hofft er aber, gar nicht erst in diese Verlegenheit zu kommen. Sein Angebot zielt zu deutlich auf die innenpolitischen Schwie-

rigkeiten in Holland, Belgien, der Bundesrepublik und Italien. Wenn nur eines dieser Länder dem Modernisierungsbeschluß der NATO seine Zustimmung versagt, werden auch die anderen zögern.

Der Entspannung würden sie damit einen Bärendienst erweisen. Kann die Sowjetunion ihr Übergewicht durch die einseitige Modernisierung ihrer Raketen weiter ausbauen, muß für sie, wie auch Kissinger fürchtet, die

Versuchung wachsen, die in den nächsten Jahren zu erwartenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch gefährliche außenpolitische Aktionen zu überspielen. Ein Krieg ist auch dann nicht wahrscheinlich, wohl aber der

Versuch, die Erpressungssumme zu steigern.

(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.)

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