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Wird SALT II ein „atomares Helsinki“?

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Nicht zum ersten Mal mußte Präsident Carter seine Erklärungen und die Kommentare seiner engsten Mitarbeiter „interpretieren“, um Freund und Feind ein klares Bild darüber zu geben, was denn eigentlich offizielle US-Politik gegenüber der Sowjetunion sei. Daß hier ständig Meinungsverschiedenheiten auftauchen, hängt wohl damit zusammen, daß die State-Department-Gruppe um Außenminister Vance und Abrüstungschef Warnke das SALT-II-Abrüstungsabkommen mit der Sowjetunion um jeden Preis über die Runden bringen möchte, Sicherheitsdirektor Brzezinski hingegen die zuletzt in Afrika aufgeflammte sowjetische Aggressivität als Bedrohung des Weltfriedens ansieht.

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Nicht zum ersten Mal mußte Präsident Carter seine Erklärungen und die Kommentare seiner engsten Mitarbeiter „interpretieren“, um Freund und Feind ein klares Bild darüber zu geben, was denn eigentlich offizielle US-Politik gegenüber der Sowjetunion sei. Daß hier ständig Meinungsverschiedenheiten auftauchen, hängt wohl damit zusammen, daß die State-Department-Gruppe um Außenminister Vance und Abrüstungschef Warnke das SALT-II-Abrüstungsabkommen mit der Sowjetunion um jeden Preis über die Runden bringen möchte, Sicherheitsdirektor Brzezinski hingegen die zuletzt in Afrika aufgeflammte sowjetische Aggressivität als Bedrohung des Weltfriedens ansieht.

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Carter unterstützt einmal die eine, dann wieder die andere Seite. Doch glaubt man jetzt eine schärfere Profilierung gegenüber dem sowjetischen Expansionsdrang feststellen zu können. Da aber das ständige Hin- und Herschwanken jedem Kommentator genügend Spielraum für eigene Interpretationen gibt, überraschte plötzlich die gewöhnlich gut informierte „Washington Post“ mit der Meldung, das Weiße Haus hätte angesichts des verschlechterten Klimas zwischen Washington und Moskau seine Bemühungen um SALT II zunächst „eingefroren“ beziehungsweise zurückgestellt. Eine Wiederaufnahme des Kalten Krieges wurde vorausgesagt. Der Präsident mußte daher wieder einmal eine „autoritative Interpretation“ seiner Moskaupolitik formulieren und wählte dazu die Abgangsrede an Absolventen der amerikanischen Marineakademie in Anaheim.

Jedoch auch diese Rede Carters war nichts mehr als eine Zusammenfassung dessen, was die beiden in der Sowjetpolitik engagierten Gruppen bereits formuliert hatten: Er unterstrich primär Washingtons Interesse an SALT II, warnte aber auch vor den Gefahren der aggressiven sowjetischen Afrika-Politik für das Konzept der Detente. Daß Moskau auf Carters Kritik schnell und scharf reagierte, bedeutet weder Moskaus Abrücken von SALT II, noch heißt es, daß der amerikanische Präsident eine ernste Trübung der Beziehungen mit Moskau wünscht.

Mit der Anaheim-Rede hat Carter nämlich die inneramerikanische Kampagne um die Ratifizierung des noch gar nicht beschlossenen SALT-II-Abkommens eröffnet. Niemand zweifelt in informierten Kreisen daran, daß die beiden Verhandlungspartner trotz vieler harter Worte und trennender Ideologie dieses Abkommen tatsächlich unterzeichnen wollen und werden - auch wenn einige wichtige Fragen angeblich noch offenstehen. Daher gewinnt man auch immer mehr den Eindruck, daß zwischen Washington und Moskau eine Art Spiegelfechterei ausgetragen wird, und daß es Moskau genauso wie Washington ver-

steht, auf die amerikanische öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen.

In den Vereinigten Staaten wächst nämlich das Bedürfnis für militärische Sicherheit und das Bewußtsein, daß in letzter Instanz nur militärische Überlegenheit Sicherheit gewährleistet. Gerade nach dem verlorenen Vietnamkrieg und angesichts der Ohnmacht gegenüber den sowjetischen Initiativen in Afrika - vor allem in Angola und Äthiopien - wächst ein Gefühl gemischt aus Trotz und Enttäuschung. Das schlägt sich dort nieder, wo sich in den USA alle Bestrebungen, Hoffnungen und Befürchtungen niederschlagen - im amerikanischen Kongreß.

Carter selbst zielt begreiflicherweise einen SALT-II-Erfolg im Senat an. Ein solcher Erfolg würde ihn als nationalen Führer bestätigen, während er heute - trotz zweier Siege im Senat -noch immer im Zwielicht steht. Dieser Erfolg setzt aber ein bestimmtes Klima gegenüber Moskau voraus. Carter braucht Spannungen in den Beziehungen zum Kreml. Jegliche Detente-Harmonie scheint dem Kongreß verdächtig, eine sowjetische Konzession würde mit Mißtrauen aufgenommen werden. Vorteilhaft für Carter wäre ein trotz Spannungen von Moskau abgerungener Verhandlungser-. folg, erzielt durch zähes Ringen am Konferenztisch und schließlich erzwungen durch den geschickten Einsatz einer der wenigen Trumpfkarten: die weitere Annäherung an Peking. Wenn dann auch noch als Belohnung ein taktischer Rückzug der Sowjets oder Kubaner irgendwo in Afrika dazukäme, wäre die Stimmung im Kongreß für eine Ratifizierung vermutlich günstig.

Aus dieser Sicht muß Carters Haltung gegenüber Moskau gesehen werden und bei sorgfältiger Betrachtung wird man entdecken, daß sich verschiedene Steine bereits in das Mosaik einfügen lassen.

Diese Analyse soll gar nicht unterstellen, daß die Sowjetunion ein Komplize in diesem Spiel sei, und daß Carter nicht selbst vom Vorteil eines Abrüstungsabkommen für die USA überzeugt ist. Vielmehr scheinen sich die Interessen der Sowjetunion und der USA in SALT II zu treffen: Gewaltige militärische Fortschritte der Sowjets würden in SALT II anerkannt, während die Amerikaner sich bereit erklären müßten, auf die Weiterentwicklung vielversprechender neuer technologischer Ansätze zu verzichten.

Als Resultat zeichnet sich eine Einigung auf der Basis eines relativen nuklearen Gleichgewichtes ab. Für die noch vor fünf Jähen weit zurückliegenden Sowjets ein kolossaler Erfolg, für Washington eine nicht eingestandene Niederlage. Denn zu der wohl illusorischen Hoffnung der Amerikaner, daß die Sowjets SALT II einhalten und sich mit einer Gleichgewichtsposition zufrieden geben würden, gesellt sich offenbar die Erkenntnis, daß in den USA weder der Wille noch die Opferbereitschaft vorhanden sind, den noch vor fünf Jahren vorhandenen atomaren Rüstungsvorsprung wieder zu erkämpfen. SALT II scheint daher ein „atomares Helsinki“ zu werden, ein Abkommen, in dem das scheinbar Unvermeidliche anerkannt wird.

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