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Keine Garantie fürs Überleben

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Wenn am kommenden Montag der amerikanische Präsident Jimmy Carter und der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew im Redoutensaal der Wiener Hofburg ihre Unterschriften unter das zweite Abkommen zur Begrenzung der strategischen Rüstung (SALT II) setzen, wird sich der Jubel über dieses jüngste sowjetisch-amerikanische Vertragswerk in Grenzen halten. Denn amerikanische Kritiker von SALT II sprechen von einer „vertraglich fixierten Unterwerfung“, europäische Verbündete der USA fühlen sich teilweise zwischen die Stühle der beiden Supermächte gedrängt, vielerorts wird überhaupt an den ehrlichen Absichten der Supermächte bei ihren Abrüstungsbemühungen gezweifelt.

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Wenn am kommenden Montag der amerikanische Präsident Jimmy Carter und der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew im Redoutensaal der Wiener Hofburg ihre Unterschriften unter das zweite Abkommen zur Begrenzung der strategischen Rüstung (SALT II) setzen, wird sich der Jubel über dieses jüngste sowjetisch-amerikanische Vertragswerk in Grenzen halten. Denn amerikanische Kritiker von SALT II sprechen von einer „vertraglich fixierten Unterwerfung“, europäische Verbündete der USA fühlen sich teilweise zwischen die Stühle der beiden Supermächte gedrängt, vielerorts wird überhaupt an den ehrlichen Absichten der Supermächte bei ihren Abrüstungsbemühungen gezweifelt.

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Tatsache ist, daß trotz der in SALT II festgeschriebenen qualitativen und quantitativen Rüstungsbegrenzung in den Arsenalen der beiden Supermächte Tau-sende von Bomben lagern, die ganze Kontinente dem Erdboden gleichmachen können. Der „Vertrag gegen den Untergang“, so das Hamburger Wochenblatt „Die Zeit“, ist keine Garantie fürs Überleben: Die totbringenden atomaren Vernichtungswaffen werden auch weiterhin auf Ziele in der Sowjetunion und in den USA gerichtet sein und weiterhin Militärs an Schaltstellen sitzen, die mit einem Druckknopf die totale Vernichtung herbeiführen können.

Wozu dann SALT II? Wozu sitzen dann sowjetische und amerikanische Abrüstungsexperten sieben Jahre an einem Tisch zusammen, wenn das Ergebnis wiederum nur Entsetzen bei der ganzen Menschheit hervorrufen muß, wenn sie sich das atomare Vernichtungspotential der beiden Supermächte vergegenwärtigt?

Einmal muß man festhalten, daß sich die beiden Supermächte im SALT II bereiterklären, ihre Potentiale herunterzurüsten und Grenzen für die atomaren Vernichtungswaffen festgelegt haben. Damit wurde einem unkontrollierten Rüstungswettlauf erstmals ein Riegel vorgeschoben.

Konkret: Bis 1982 soll eine neue Höchstgrenze für alle strategischen Systeme gelten, nicht mehr als 2250 Raketen und schwere Bomber sollen als Trägerwaffen existieren. Das heißt im Klartext: echte Rüstungsbegrenzung, denn es zwingt die Sowjets zur Verschrottung von etwa 300 Trägersystemen.

Unter diese übergeordnete Obergrenze wurden drei „Zwischendek-ken“ eingezogen, die für einzelne Waffensysteme die Höchstgrenze festlegen:

• Von den 2250 Trägersystemen dürfen nur 1320 mit mehr als einem Sprengkopf oder mit „cruise missi-les“ (Marschflugkörper) bestückt sein.

• Von diesen 1320 Abwurfsystemen mit Mehrfachsprengköpfen dürfen wiederum nur 1200 Stück Interkontinental- und U-Boot-Raketen sein, wodurch nur 120 Bomber mit je 28 Marschflugkörpern zugelassen sind.

• Nur 820 dieser 1200 Raketen dürfen Interkontinentalgeschosse sein, was die Supermächte dazu zwingt, ihr übriges Potential mit Mehrfachsprengköpfen auf U-Boote zu verlagern.

Zu diesen quantitativen Grenzen legt SALT II auch noch qualitative Einschränkungen fest:

• Beide Seiten dürfen während der Laufzeit des Vertrages (bis 1985) nur eine neue Interkontinentalraketentype einführen.

• Auf dem Land stationierte Fernwaffen dürfen mit höchstens zehn, U-Boot-Raketen mit höchstens 14 Sprengköpfen ausgerüstet sein.

• Bomber dürfen höchstens 28 Marschflugkörper mit sich führen.

Soweit die Abrüstungsvereinbarungen, die im SALT II festgelegt sind. Allein aus diesen Zahlen läßt sich ablesen, daß mit SALT II die Gefahr der Vernichtung keineswegs gebannt ist; sie wird höchstens in vertraglich festgelegte Bahnen gelenkt. Was sonst trägt SALT II dann aber zum Frieden in der Welt, zum Abbau der Spannungen zwischen Ost und West bei?

Wichtig erscheint auf jeden Fall ein psychologisches Motiv, das sowohl in Moskau wie in Washington genannt wird, wenn man nach der Bedeutung von SALT II fragt: Der größte Wert bestehe darin, daß die beiden Supermächte die delikaten Probleme nationaler Sicherheit mit einer in der Geschichte beispiellosen Offenheit miteinander diskutieren.

Denn es hat sich gezeigt, daß es den beiden Supermächten schwerfällt, miteinander einen sinnvollen Dialog zu führen - nicht nur, weil die USA und die Sowjetunion grundsätzliche ideologische Streitfragen trennen. Die Beziehungen zwischen den beiden Mächten werden untergraben, weil die Sowjetunion ihre Entscheidungen zumeist mit geradezu grotesk anmutender Heimlichtuerei verhüllt und weil die USA in ihrer Außenpolitik große Unbeständigkeit aufweisen, ganz abgesehen von der Verwirrung, die die für Außenpolitik Verantwortlichen durch entgegengesetzte Aussagen gelegentlich anstiften.

Verwirrung stiften aber auch die Sowjets mehr als genug. Denn es ist zweifellos paradox, daß die sowjetischen Führer einerseits mit ihren ideologischen und potentiellen militärischen Feinden über nationale Sicherheitsinteressen verhandeln, anderseits aber an ihrem Grundsatz vom weltweiten Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus festhalten! Das hat die Kritiker von SALT n ja auch die legitime Frage stellen lassen, ob die USA mit den Sowjets weitere Abkommen schließen sollten, wenn diese ihre expansionistische Politik fortsetzen würden.

So gesehen, ist es äußerst fraglich, ob SALT II einen wesentlichen Beitrag zur Entspannung zwischen Ost und West leisten kann. Denn die Sowjetunion betreibt ihre Außenpolitik doppelgeleisig: Im Rahmen ihres nationalen Sicherheitsinteresses betreibt sie eine bilaterale Politik, verhandelt mit den Amerikanern über die Begrenzung der strategischen Rüstung, gleichzeitig hält sie an ihren ideologischen Axiomen, dem Klassenkampf im internationalen Maßstab und dem proletarischen Internationalismus, fest.

Dazu kommt noch das, was die amerikanischen Kritiker von SALT II als „vertraglich fixierte Unterwerfung“ der USA unter die Sowjetunion bezeichnen: Die Sowjetunion hat die letzten Jahre - also noch während die SALT-Verhand-lungen liefen - dazu benützt, in einer beispiellosen Aufholjagd mit den USA rüstungstechnisch qualitativ gleichzuziehen.

Daß die Sowjets diese ungeheuren Rüstungsanstrengungen unternommen haben, führen Kreml-Experten darauf zurück, daß Moskau ganz einfach der Bedrohung entgehen wollte, die von neuen amerikanischen Waffensystemen ausgegangen war. Des Kremls Antwort darauf: die eigene Stärke so weit wie möglich auszubauen.

Dennoch: Eine Antwort auf die Bedrohung allein war dieser rüstungspolitische Gewaltakt der Sowjets gewiß nicht: Sonst hätte Moskau nicht sein gegen Westeuropa gerichtetes strategisches Potential derart ausgebaut, die neue mit Mehr-fachsprengköpfe'n ausgerüstete Mittelstreckenrakete SS-20 und den „Backfire“-Bomber in Dienst gestellt - beides Waffensysteme, die SALT II nicht berücksichtigt. (Was den „Backfire“-Bomber betrifft, haben sich die Sowjets in einem Begleitbrief zu SALT II Bereiterklärt, nicht mehr als 30 Maschinen dieses Typs im Jahr zu produzieren.)

Das zunehmende Ungleichgewicht der eurostrategischen Kräfte zugunsten der Sowjetunion bereitet den westeuropäischen Verbündeten der USA natürlich Sorgen, zumal es den Sowjets ja auch darum zu gehen scheint, mit Hilfe von SALT jene Waffensysteme zu beschränken, von denen sich die Europäer ein Gegengewicht zur sowjetischen Bedrohung erhoffen.

Verharidlungsstoff - oder besser: Sprengstoff - genug für SALT H, wo die Europa betreffenden strategischen Waffen behandelt werden sollen. Doch bis dahin scheint der Weg noch weit. Denn vorerst muß SALT II unter Dach und Fach gebracht werden. Und dazu muß der amerikanische Präsident Jimmy Carter erst einmal zwei Drittel der Senatoren überzeugen, daß SALT II keine Nachteile für die USA bringt (siehe Stichwort).

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