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Bresche in den Wahnwitz

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Washington und Moskau sind sich endgültig einig: Noch vor dem Sommer wird in Wien ein zweiter Vertrag zur Begrenzung der atomaren Raketenrüstung unterzeichnet werden. Dann werden die Verhandlungen sogleich in die dritte Gesprächsrunde (SALT III) einschwenken und erstmals auch die Mitgliedstaaten von NATO und Warschauer Pakt einbeziehen. Vorläufig noch müssen die USA nicht völlig darauf verzichten, ihre Bundesgenossen in die Technologie der wichtigsten neuen Westwaffen einzuweihen: die ferngesteuerten pilotenlosen Marschflugkörper“ (cruise missiles).

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Washington und Moskau sind sich endgültig einig: Noch vor dem Sommer wird in Wien ein zweiter Vertrag zur Begrenzung der atomaren Raketenrüstung unterzeichnet werden. Dann werden die Verhandlungen sogleich in die dritte Gesprächsrunde (SALT III) einschwenken und erstmals auch die Mitgliedstaaten von NATO und Warschauer Pakt einbeziehen. Vorläufig noch müssen die USA nicht völlig darauf verzichten, ihre Bundesgenossen in die Technologie der wichtigsten neuen Westwaffen einzuweihen: die ferngesteuerten pilotenlosen Marschflugkörper“ (cruise missiles).

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Irgendwo in Rußland wartet eine Interkontinentalrakete vom Typ SS-19 in ihrem Silo tief unter der Erdoberfläche auf einen Knopfdruck. Erfolgt dieser, dann jagen sechs Atomsprengköpfe auf ihre Ziele zu. Sie könnten zum Beispiel die US-Hauptstadt Washington samt Vororten im Umkreis von 20 km dem Erdboden gleichmachen. Die Sowjetunion verfügt über mehr als hundert SS-19-Raketen und über eintausend weitere Bodenraketen, die Ziele in den USA erreichen können.

Irgendwo in den schwarzen Tiefen des Atlantiks zieht ein amerikanisches Atom-Unterseeboot vom Typ Poseidon seine Bahn. 16 Startvorrichtungen im Mittelteil sind mit Poseidon-Raketen bestückt, die alle 'mehrere Atomsprengköpfe tragen. Eine einzige Salve dieses einen U-Boots setzt eine höhere Gesamtsprengkraft frei, als von ganz Europa und Japan im Zweiten Weltkrieg angewendet wurde.

Das ist die atomare Realität von heute. Sie zu bändigen, haben die USA und die Sowjetunion 1969 Gespräche über eine Beschränkung der strategischen Waffen (Strategie Arms Limitation Talks - SALT) aufgenommen. In zulässiger Vereinfachung kann man heute als strategisch alle Angriffs- und als taktisch alle Verteidigungswaffen einstufen, sofern auch solche Unterscheidungen überhaupt noch möglich sind.

Vielstufiger Prozeß

Das erste Abkommen (SALT I) trat 1972 in Kraft und lief im Oktober 1977 aus. Weil die Verhandlungen über SALT II damals noch nicht abgeschlossen waren, kamen beide Großmächte überein, SALT I freiwillig weiter einzuhalten. Nun also ist das zweite Abkommen unterzeichnungsreif und die dritte Verhandlungsrunde kann beginnen - denn SALT ist ein vielstufiger Prozeß, in dessen dritter Phase nun erstmals auch die Verbündeten der zwei Supermächte und deren Waffen eine Rolle spielen werden.

Auf die Details von SALT I wird die FURCHE noch ausführlich zurückkommen - auch auf die weltpolitischen Aspekte. Zunächst ist einmal festzuhalten, daß jede vertretbare Kompromißformel in den kriminellen Wahnsinn des Rüstungswettlaufs eine Bresche der Vernunft schlägt. Die Frage ist also: Ist die nun gefundene Formel „vertretbar“ oder nicht?

Da darüber auch Spezialisten der Waffentechnologie und der Weltpolitik streiten, ist es für einen Beobachter auf Distanz so gut wie unmöglich, sich auch bei gewissenhaftestem Quellenstudium ein eigenes Urteil zu bilden. Man kann nur Argumente vergleichen. Hier die wichtigsten: • SALT II wird zum erstenmal die Zahl der interkontinentalen Raketenträgersysteme mit Mehrfachsprengköpfen nach oben begrenzen, aber die Sowjetunion wird auf jeden

Fall ein Ubergewicht bei den Landraketensystemen und auch im Bereich der Nutzlast haben.

• Dagegen wird eingewendet, daß die USA ähnliche viele und ähnlich schwere Raketen hätten bauen können, sich aber für eine Konzentration auf mehr U-Boot-Raketen einerseits und mehr Treffsicherheit andererseits entschieden hätten.

• Von niemandem wird bestritten, daß die amerikanischen „Minute-man“-Landraketen etwa ab 1985 für einen sowjetischen Erstangriff verwundbar sein werden. Das würde sie als Vergeltungswaffe ausschalten, wenn die UdSSR nach einem solchen Erstschlag systematisch an die Zerstörung anderer Ziele schritte.

• Dagegen machen die Verteidiger von SALT II geltend, daß die USA nur etwa ein Viertel ihrer Interkontinentalraketen als Landraketen besäßen, fast drei Viertel aber auf Bomber und U-Boote verteilt wären, die von einem solchen Erstschlag unberührt blieben.

• Umstritten ist auch der sowjetische Mittelstreckenbomber „Backfi-re“ (ein NATO-Codename), der in der Luft aufgetankt und im Bedarfsfall in einen Lan^streckenbßmbjfi;-utpge-wandeit werden könnte, aber nicht im SALT-Vertrag enthalten sein soll.

• Dafür haben die Sowjets freilich darauf verzichtet, bei der zulässigen Gesamtzahl von Trägersystemen (=Bomber.Langstreckenraketenund U-Boote) Bomber und Flugzeugträger im NATO-Raum mitzuzählen, die gleichfalls Mittelstreckenraketen de facto in Langstreckenraketen „verwandeln“ könnten.

Ein Hasardspiel

Ein Jahr vor amerikanischen Präsidentschafts-, Senats- und Repräsentantenhauswahlen Wird es sehr schwer sein, im Senat eine Zweidrittelmehrheit für SALT II zu erzielen. Präsident Carter will aber alles auf eine Karte setzen und selbst im Fall einer Senatsniederlage sich freiwillig an SALT II halten, falls die Sowjets mitspielen und sich mit einem späteren zweiten Senatsanlauf vertrösten lassen.

Ein Hasardspiel - aber vielleicht ebenso notwendig wie alles übrige, was rund um den bisher bedeutendsten Waffeneindämmungsvertrag der Weltgeschichte aufgeführt werden muß.

Denn trotz aller möglichen Schwächen darf man doch nicht übersehen, was SALT II auf jeden Fall bringen würde: erstmals eine zahlenmäßige Obergrenze für Trägersysteme, die die UdSSR zur Zerstörung von hun-derten (freilich veralteten) Raketen zwingen würde, die USA aber nicht.

Ein genauer Zahlenvergleich zwischen beiden Supermächten wird nie zielführend sein, weil Vorteilen in einem Bereich Nachteile im anderen gegenüberstehen. Die Sowjets führen bei den Landraketen in Zahl und Nutzlast, die USA in der U-Boot-Qualität, bei den Bombern und in der Treffsicherheit. Und, so darf man trotz aller Enttäuschungen noch immer annehmen, in der moralischen Qualität derer, die den Finger am Druckknopf haben.

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