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Wie hält es Carter mit den Menschenrechten?

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Nach wie vor gibt die Regierungstätigkeit Präsident Carters dem Analytiker zahlreiche Rätsel und Ungereimtheiten zu lösen auf. Nichts jedoch ist undurchsichtiger, unlogischer und so sehr in Widersprüche verstrickt wie Seine Behandlung des Verhältnisses der USA zur Sowjetunion. Es hat den Anschein, als ob die einzige Möglichkeit, dieses Gewirr aufzulösen, ein Rückblick auf die Wahlkampagne Carters wäre.

Unfähig, den Glauben der Wähler an die Qualitäten Außenminister Kissingers wesentlich zu erschüttern - Kissingers Popularitätskurve ist nie unter 50 Prozent gefallen - versuchten Carter und sein außenpolitischer Mentor Brzezinsky dem Wähler einzureden, daß die Regierung Ford-Kissinger der Sowjetunion zu nachgiebig gegenüberstehe und kein Mitgefühl für die Unterdrückten hinter dem Eisernen Vorhang aufbringe. Immer wieder warf Carter Ford vor, daß er Solsche- nizyn im Weißen Haus nicht empfangen und so der sowjetischen Unterdrückung Vorschub geleistet habe.

Dieses Solschenizyn-Syndrom plagt Carter heute noch. Es wird nicht nur gespeist durch das moralisch-religiöse Element, das dem Präsidenten innewohnt, sondern auch durch die Befürchtung, Wahlversprechen nur in den Wind gesprochen zu haben und somit als Dampfplauderer von der öffentlichen Meinung abgetan zu werden. Welcher demokratische Politiker außer Carter hat jemals seine Wahlversprechen nach der Wahl veröffentlicht und kodifiziert, damit man nachprüfe, was er auch tatsächlich einhält?

So stand das Eintreten für die Menschenrechte vor allem in der Sowjetunion hoch oben auf Carters Regierungsagenda und stellte ein kalkuliertes außenpolitisches Risko dar. Weder wußte man, was sich aus einigen symbolischen Gesten und Briefen an sowjetische Dissidenten entwickeln werde - solche Dinge haben oft ein Eigenleben - noch war abzusehen, wie sich die Sowjetunion verhalten werde. Man hatte zwar laut und vernehmlich immer wieder an die Adresse Moskaus gerufen: „Wir wollen mit euch weiter über Abrüstungsfragen reden!” und: „Wir wollen auch weiterhin einen Entspannungskurs verfolgen!” Aber so sicher ist und war man sich der Reaktionen Moskaus nicht. Begleitet wurden diese Beteuerungen von der Feststellung des Außenministers Vance, daß das eine - nämlich die Wahrung der Menschenrechte - mit dem anderen - nämlich der Fortsetzung des Dėtentekurses - nichts zu tun habe.

Daß diese Politik Moskau nicht erfreuen werde, dürfte man in Washington vorausgesehen haben. Wie nicht anders zu erwarten, haben die Carter- schen Gesten für die Menschenrechte hinter dem Eisernen Vorhang eine Belebung des potentiell immer existierenden Widerstand willens ausgelöst und dies wenige Monate vor der Belgrader Konferenz, die Auswirkungen und „Segnungen” der Abkommen von Helsinki überprüfen soll. Sie haben somit das Ansehen der Sowjetunion und ihrer Satelliten in der Welt beeinträchtigt, sowohl moralisch als auch machtpolitisch. Sie haben aber auch in taktischer Hinsicht der sowjetischen Außenpolitik vorüberhend die Initiative geraubt, denn es ist jetzt nicht der Kreml, der einen unerfahrenen amerikanischen Präsdenten testet, sondern es ist Carter, der ein Eck der sowjetischen Maske hebt.

Es erhebt sich nun die Frage, wie die Sowjetunion reagiert und reagieren wird und wie sie die Cartersche Kampagne für die Menschenrechte politisch einschätzt. Zunächst einmal dürften massive Proteste und diplomatische Interventionen aus Moskau der Kampagne Carters einen Dämpfer aufgesetzt haben. Es ist in den letzten zwei Wochen etwas stiller um die Dis sidenten geworden. Überdies bedeutet diese Kampagne für die amerikanische Außenpolitik eine selbstauf- erlegte Fessel: Sie raubt ihr nämlich die Flexibilität. Wie will man es jetzt noch motivieren, daß man mit Kuba eine Normalisierung der Beziehungen anstrebt, obwohl dort die Menschenrechte mit Füßen getreten werden? Oder mit den neuen Machthabern in Saigon, Hanoi und Pnompenh?

Schüchterne Beteuerungen des Sta- te-Department, man wolle die Beziehungen zu Kuba erst dann normalisieren, wenn dort eine striktere Einhaltung der Menschenrechte geübt werde, wurden von Castro mit homerischem Gelächter quittiert. Es zeigt sich eben, daß eine Politik nur dann glaubhaft und zielführend ist, wenn dahinter nicht nur der Wille, sondern auch die Macht stehen, sie durchzusetzen.

Und so dürfte der Kreml auch nicht wirklich besorgt sein, daß Carters Initiative einer Bedrohung der russischen Weltgeltung gleichkommen könnte. Im Gegenteil. Wie der ungarische Aufstand und der Prager Frühling zum Ende der Hoffnungen vieler Millionen freiheitsliebender Menschen wurden, so wird wohl auch jetzt wieder die Enttäuschung hinter dem Eisernen Vorhang bitter sein, wenn Carters Kampagne einschläft und ohne wesentliche Folgen bleibt. Man wird von Zynismus sprechen, von der Perfidie des Westens, die Hoffnungen nährt und sie dann verrät. Die Niedergeschlagenheit der Völker wird es dem Kreml erleichtern, sie zu knebeln.

Es ist aber auch anzunehmen, daß der Kreml die innenpolitische Bedeutung der Carterschen Kampagne für die Menschenrechte richtig beurteilt. Denn um Konzessionen in Abrüstungsfragen machen zu können, muß Carter innenpolitisch die Muskeln spielen lassen. Zu stark ist das konservative Element in den militärpolitischen und außenpolitischen Bereichen, als daß man ohne Rücksicht auf innenpolitische Verluste bei den Abrüstungsverhandlungen nachgeben könnte. Daß man aber bereit ist, Rüstungskonzessionen zu machen, scheint schon durch die Nominierung des „liberalen” und weit über das konservative Lager hinaus umstrittenen Abrüstungsbeauftragten Paul Wamke angedeutet zu werden. Daher auch der massive Widerstand gegen dessen Nominierung im Senat, wo er 40 Gegenstimmen erhielt. Alle diese Gesten vermag der Kreml wohl zu lesen, und diese Aspekte dürften einige Unannehmlichkeiten an der inneren Front für ihn aufwiegen. Er weiß, daß er einen innenpolitisch gestärkten Carter braucht, um schließlich die erhofften Konzessionen auch vom Kongreß ratifiziert zu sehen.

Wird Carter tatsächlich Sicherheitsbedrohende Konzessionen machen? Das ist eine Frage, die wohl niemand objektiv beantworten kann. Niemand außer einigen Spezialisten kann wirklich die Auswirkungen moderner und supermoderner Wunderwaffen beurteilen, und der Glaube an die technologische Überlegenheit über die Sowjets mag dazu beitragen, daß man den Russen Konzessionen quantitativer Natur zu machen bereitist. Kommt es dann zu massiver Kritik, wird es in Washington immer Spezialisten geben, die „nachweisen” werden, daß noch modernere Waffensysteme in Vorbereitung sind und jene, die man aufgibt, ohnedies überholt sind. Man wird wahrscheinlich die absolute Sicherheit opfern, um sich viel Geld zu sparen, weil man - so wird wohl argumentiert werden - absolute Sicherheit ohnedies nicht gewährleisten kann und weil man relative Sicherheit durch technologische Überlegenheit zu erhalten hofft. Geld aber braucht man für unzählge Sozialleistungen, die Carter im Wahlkampf versprochen hat und die er nun zu erfüllen gedenkt.

So gesehen, entbehrt die Cartersche Kampagne für die Menschenrechte nicht jener Kosmetik, die auch seine übrigen Maßnahmen vielfach charakterisiert. Das ist nicht ganz ungefährlich, weil es vom Kreml mißverstanden werden könnte und einen Nerv bloßlegt. Aber käme es tatsächlich zu einer ernsten Krise, so kann die Flamme der Menschenrechte schnell gedrosselt und dem Kreml verständlich gemacht werden, daß eigentlich alles nicht so ernst gemeint war.

Denn eines weiß Carter genau: Eine echte, konsequente und durch Machtmittel gedeckte Kampagne für die Freiheit der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang bedeutet Konfrontation mit der Sowjetunion und Konfrontation kostet vor allem Geld, Schweiß und Opfer. Diese Politik zu honorieren, ist das amerikanische Volk nicht bereit, und niemand weiß das besser als Jimmy Carter.

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